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Weg aus dem Lazarett
führte ins Unbekannte

Aktuelle Recherchen nach drei verschollenen Brüdern

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Ein solcher Fall ist dem Bielefelder Amtsgericht in anderthalb Jahrzehnten nicht untergekommen. Berlin hingegen nimmt in ähnlichen Angelegenheiten Jahr für Jahr 24 000 Euro ein: Anfragen zu Vorfahren, die nicht aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrten, sind gar nicht so selten.

Ein Beispiel: Drei junge Männer, alle in den 1890er Jahren im Bielefelder Süden geboren, blieben im Krieg. Das muss damals für die Eltern ein furchtbarer Schicksalsschlag gewesen sein. Heute hingegen kennt die Nachfahren nur noch drei Namen - aber unter Umständen ist das zu wenig.
Drei Gründe werden genannt, die Anlass bieten, in die Vergangenheit der eigenen Familie einzutauchen: Der eine möchte einfach einen Stammbaum erstellen. Der zweite erfährt, dass er gar nicht bei den leiblichen Eltern aufwuchs. Und der dritte hofft auf ein Erbteil - das um so größer ausfällt, je weniger Erbnehmer es gibt.
Dann gilt es nachzuweisen, dass vermisste Verwandte tot sind. Was aber geschah mit dem fünften Mann auf dem gekenterten Segler, von dessen Crew nur vier tot geborgen wurden? Hat die auf der Passagierliste vermerkte Person des abgestürzten Flugzeugs jemals in der Maschine gesessen? Und was stieß demjenigen zu, der nur mal Zigaretten holen wollte?
Wenn die Vermissten 1894, 1895 und 1898 geboren wurden, heißt es schnell: Ob Kriegsteilnehmer oder nicht - die sind längst gestorben. »Aber wer ist so kühl, dies den Nachkommen von Amts wegen schriftlich zu geben?«, fragt ein Sachbearbeiter des Amtsgerichts. Also heißt es: nachforschen.
Zunächst beim Roten Kreuz.
Der noch heute bestehende DRK-Suchdienst (»Suchkind 312«) ist legendär, aber fast alle Anfragen betreffen Schicksale aus dem Zweiten Weltkrieg. »Wir werden allerdings auch bei aktuellen Katastrophenfällen aktiv, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Tsunami Ende 2005«, berichtet Lilli Giesbrecht, die (einzige) Suchdienstsachbearbeiterin des Bielefelder DRK-Kreisverbands. »Und in einem Fall, in dem ein Bielefelder ÝBesatzerkindÜ seinen leiblichen Vater sucht, sind wir noch nicht fündig geworden, obwohl die Recherche bereits fast ein Jahr dauert.«
Und wenn es um den Ersten Weltkrieg geht? An solche Suchaufträge kann man sich bei der DRK-Suchdienstzentrale in München gar nicht erinnern.
Also bei der Berliner WASt (Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen Deutschen Wehrmacht). »Wir erhalten so viele Anträge, dass wir eine Warteliste von acht Monaten haben«, sagt Birgit Wulfs, die bei der WASt für Westeuropa und die Jahre 1914/18 zuständig ist. 300 Mitarbeiter recherchieren - vor allem extern und in enger Kooperation mit dem Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge.
Oder mit dem Krankenbuchlager, ebenfalls Berlin. »Wir haben Adolf Hitler zweimal in unseren Unterlagen«, sagt Dieter Dureck, der die dem Versorgungsamt angegliederte Behörde leitet. Der Frontsoldat Hitler nämlich wurde zweimal verwundet, »und wir hüten 50 000 Lazarettkrankenbücher«, erklärt Dureck. »Das sind nur die preußischen Unterlagen - es gibt auch bayerische, württemberg-badische und sächsische Krankenbücher.«
Jährlich 24 000 Euro nimmt das Berliner Krankenbuchlager an Gebühren ein, 26 Euro pro Fall. Und wurde auch bei den drei Bielefelder Brüdern fündig: Zwei von ihnen, heißt es, seien aus einem Lazarett entlassen worden, der eine als kriegsfähig, der andere als nicht mehr fronttauglich.
Da gerät man ins Grübeln: Haben die beiden alle Brücken hinter sich abgebrochen? Oder sind sie doch den »Stahlgewittern« zum Opfer gefallen?
Ihre erbwilligen Nachkommen hingegen interessiert vor allem eines: der Zeitpunkt des Todes. Und genau das ist die Crux. Vermisste des Zweiten Weltkriegs dürfen nach dem Verschollenheitsgesetz exakt zum 31. Dezember 1945 für tot erklärt werden. »Für den Ersten Weltkrieg jedoch existiert keine solche bequeme Formel«, bedauern Rechtsexperten.
Und so werden denn die drei Brüder bis zum 23. Februar aufgefordert, sich zu melden. »Andernfalls die Todeserklärung erfolgen kann«, heißt es im Amtsdeutsch.

Artikel vom 05.01.2007