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Es machte Spaß, einfach auf den Stufen zu sitzen und alles zu beobachten, was ringsum geschah, den vielen Stimmen zu lauschen und dem Hupen der Autofahrer. Nacht für Nacht war der Himmel wolkenlos und wie schwarzer Samt, übersät von Sternen. Andrew machte Fotos von Virginia. Auf allen Bildern hatte sie glücklich funkelnde Augen und schien voller Freude und Lebenslust.
Nie mehr vorher oder nachher würde es Fotos geben, die sie so strahlend zeigten.
Das Glück endete am Tag ihrer Abreise.

E
s war früher Morgen, erstes Tageslicht sickerte durch die schmalen Ritzen der hölzernen Fensterläden vor ihrem Zimmer. Leise noch und zaghaft erwachte Rom draußen zum Leben. Virginia und Andrew liebten einander mit der Intensität und Hingabe, die das Bewusstsein des nahenden Abschieds in ihnen weckte. Mittags ging ihr Flug nach London. Abends schon würde Virginia wieder am Tisch mit Michael sitzen, seiner etwas umständlichen Art zusehen, mit der er sich ein Brot belegte, und würde seinem stets leicht larmoyanten Tonfall lauschen, mit dem er erzählte, wie sehr er unter ihrer Abwesenheit gelitten und wie allein er sich gefühlt hatte. Sie würde von ihrer Studienreise nach Rom berichten. Es war im Vorfeld nicht leicht gewesen, ihn davon zu überzeugen, dass sie unbedingt allein fliegen wollte. Genau genommen hatte sie ihn überhaupt nicht überzeugt, es war ihm nur nichts anderes übrig geblieben, als letztlich ihren Willen zu akzeptieren. Er hatte sie jeden Morgen in ihrem Hotel angerufen und wissen wollen, ob sie sich allein wirklich besser fühlte als mit ihm zusammen. Manchmal war er ihr so auf die Nerven gegangen, dass sie hätte schreien mögen.

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etzt, an diesem letzten Morgen, eng an Andrew geschmiegt, ermattet von der Liebe und geborgen im Nachklang ihrer völligen Verschmelzung, dachte sie plötzlich: Es kann so nicht weitergehen. Es ist unwürdig und schrecklich.
Sie richtete sich auf.
»Andrew, bitte, es kann nicht immer so bleiben wie jetzt«, sagte sie.
Andrew öffnete die Augen, sah sie an. »Was meinst du?«
»Na, alles. Die Lügen. Die Heimlichkeiten. Unser häufiges Getrenntsein. Unsere Liebesstunden in irgendwelchen Hotels. Das hatte sicher anfangs seinen Reiz, aber inzwischen finde ich es nur nochÉ belastend. Und irgendwieÉ häßlich.«
Er seufzte, setzte sich ebenfalls auf. Mit der rechten Hand strich er sich über die Augen. Er sah plötzlich sehr müde aus.

V
irginia spürte eine leise Beklemmung in ihrer Brust, ähnlich dem Gefühl, das sie auf der Engelsbrücke befallen hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Andrew wirkte so gequält.
»Andrew«, fragte sie leise, »du wirst doch bald mit Susan sprechen? Es kann doch nicht ewig so weitergehen.«
Er blickte an ihr vorbei in irgendeine Ecke des Zimmers, in der nichts war als die Dunkelheit der vergehenden Nacht.
»Ich wollte es dir schon die ganze Zeit erzählen«, sagte er so leise wie sie zuvor, »aber mir fehlten die Worte. Mir fehlte der Mut.«
Ihr wurde kalt. Fröstelnd zog sie die Decke enger um ihren Körper. »Was? Was wolltest du erzählen?«
»Es hat sich etwas geändert. Es istÉ ich kann nicht mit Susan sprechen. Nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»WeilÉ« Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Er saugte sich förmlich an der leeren, dunklen Ecke fest. »Susan erwartet ein Kind«, sagte er.
Draußen auf der Straße schrie jemand, gleich darauf ertönte ein Klappern und Scheppern. Lautstark wurde offenbar die Last eines Lieferwagens abgeladen. Zwei Männer schienen miteinander zu streiten. Eine Frau mischte sich mit schriller Stimme ein.
Virginia hörte es kaum. Nur als ein fernes Geräusch im Hintergrund, unwirklich und wie aus einer anderen Welt stammend.
»Was?«, fragte sie fassungslos.
»Sie hat es mir Ende Februar gesagt.«
»Aber wieÉ ich meineÉ wannÉ?«
»Im September«, sagte Andrew, »es wird Mitte September zur Welt kommen.«
Ihr wurde schwindelig, sie musste sich an das wuchtige, hölzerne Kopfteil des Bettes lehnen.
»Im September«, sagte sie. »Dann wurde es also im DezemberÉ« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
Andrew sah aus, als wollte er am liebsten die Flucht ergreifen. »Ja, im Dezember«, bestätigte er, »als Susan in Cambridge war. Wir hatten beide getrunken, es war WeihnachtenÉ es passierte einfachÉ«

S
ie hatte sofort begriffen, wie die Dinge lagen, und doch gegen jede Vernunft gehofft, alles verhielte sich ganz anders. »Du hast immer gesagt, dass ihr seit über einem Jahr nicht mehrÉ«
»Das stimmte auch. Es war nur dieses eine Mal. Aus einer Stimmung heraus, aus einer ChampagnerlauneÉ Ich habe es später selbst nicht mehr verstanden.«
»Du bist ganz sicher, dass es dein Kind ist?«
»Ja«, sagte Andrew.
Der Schwindel wurde stärker. Sie öffnete den Mund, um zu schreien. Aber sie brachte keinen Laut hervor.

3
Janie Brown hasste den Mittagsschlaf, zu dem sie während ihrer Schulferien jeden Tag nach dem Essen verdonnert wurde. Er erschien ihr als eine schreckliche Zeitverschwendung. Zudem fand sie ihn so sinnlos: Während der Schulzeit musste sie ja auch nicht schlafen, denn da kam sie ohnehin erst irgendwann am Nachmittag zurück.
Aber Mum bestand auf dieser halben Stunde Ruhe, ganz gleich, wie oft Janie versicherte, kein bisschen müde zu sein. Einmal, während einer ihrer heftigen Diskussionen um dieses Thema, hatte sie gesagt: »Ich brauche einfach ein wenig Zeit für mich!« Seither argwöhnte Janie, dass sie nur ins Bett geschickt wurde, damit Mum sich nicht mit ihr beschäftigen musste. Sie setzte sich mittags immer entweder ins Wohnzimmer oder im Sommer auf den kleinen Balkon und rauchte hektisch fünf oder sechs Zigaretten hintereinander. Das sei ihre Art zu entspannen, hatte sie Janie einmal erklärt. Mum musste viel arbeiten. Sie hatte einen Job in einer Wäscherei, wo sie die Wäsche anderer Leute wusch und bügelte, und sie war immer fix und fertig. Normalerweise blieb sie während ihrer Mittagspause im Betrieb, aber wenn Janie Ferien hatte und nicht in der Schule essen konnte, kam sie nach Hause geeilt, um rasch irgendetwas zu kochen. Sie selbst rührte davon kaum etwas an.
»Ich ernähre mich von Zigaretten«, sagte sie oft, aber Janie dachte, dass die sie kaum richtig satt machen konnten, denn Mum war entsetzlich dünn. Um zwei Uhr musste sie wieder weg und kam dann erst abends zurück. Janie fühlte sich manchmal sehr allein. Die Mütter ihrer Freundinnen waren zu Hause, spielten mit ihren Kindern, kochten ihnen am Nachmittag Kakao und machten ihnen Marmeladenbrote. Dafür waren diese Kinder allerdings nicht so selbstständig. Sie hatte gehört, wie die Mutter ihrer Freundin Sophie zu Mum gesagt hatte: »Ich staune immer wieder, wie selbstständig Ihre Janie ist!«

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anchmal, wenn sie sich traurig und einsam fühlte, dachte sie daran, und es ging ihr sofort besser. Sie hatte aber auch manch anderes aufgeschnappt, und das war nicht so erfreulich. Sie wusste, dass man Mum »alleinerziehend« nannte und dass dies ein Umstand war, der bei vielen Leuten ein an Verachtung grenzendes Mitleid auslöste. Mrs. Ashkin, die im Haus zwei Etagen unter ihnen wohnte, hatte zu ihrer Nachbarin gesagt, Janies Vater sei unbekannt, und sie hatte hinzugefügt: »Kommen wahrscheinlich zu viele in FrageÉ« Janie wusste nicht, was sie damit meinte, aber der Tonfall und der Gesichtsausdruck von Mrs. Ashkin hatten ihr gezeigt, dass Mum offenbar schon wieder irgendetwas getan hatte, was ihr die Verachtung der Leute einbrachte.

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anie hatte sich immer nach einem Vater gesehnt. Oder - vielleicht nicht immer, aber zumindest seit der Zeit, als sie zu begreifen begann, dass in ihrem Leben etwas anders war als bei den übrigen Gleichaltrigen. Seit den Tagen der Play School, als sie begonnen hatte, nachmittags andere Kinder zu besuchen und zu Geburtstagspartys zu gehen, war ihr aufgegangen, dass es in anderen Familien einen Daddy gab. Daddys waren etwas ganz Tolles. Die Woche über mussten sie arbeiten, verdienten das Geld und sorgten so dafür, dass die Mütter daheim bleiben und sich um ihre Kinder kümmern konnten. An den Wochenenden gingen sie mit den Kindern zum Schwimmen, unternahmen Fahrradtouren oder brachten den Kindern das Skateboardfahren bei. Sie reparierten zerbrochenes Spielzeug, flickten Fahrradschläuche, erzählten Witze und halfen, Baumhäuser zu bauen. Sie luden die Familie in den Tierpark oder zum Pizzaessen ein. Sie waren nicht nervös und halb verhungert und sagten nicht dauernd, dass sie Ruhe brauchten. Oft waren sie genau für die Unternehmungen zu haben, vor denen die Mütter warnten. Zum Beispiel im Schlauchboot einen Nebenfluß des Great Ouse entlangzuschippern. Das hatte der Vater von Katie Mills mit fünf Kindern an Bord getan, und Janie hatte es kaum fassen können, dass sie dabei sein durfte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.02.2007