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Er wird seinen Weg finden«, sagte sie, mit leichterer Stimme, als sie sich tatsächlich fühlte, »und ich möchte Weihnachten auf jeden Fall mit dir verbringen. Nicht mehr mit ihm.«
Andrew sagte noch immer nichts. Er stand von seinem Sofa auf, trat vor den Kamin, legte einen neuen Scheit ins Feuer.
»Andrew?«, fragte Virginia unsicher.
Er blickte in die Flammen, die sich knisternd und prasselnd auf das neue Stück Futter stürzten.
Virginia stellte ihren Kaffeebecher ab. »Andrew, was ist los?«
Er sah sie nicht an. »Wegen Weihnachten«, sagte er. »Schatz, Virginia, es wird nicht gehen, dass wir zusammen feiern.«
»Warum denn nicht?«
Er holte tief Luft. »Wegen Susan«, sagte er, »meiner Frau. Sie trifft am 23. Dezember in Cambridge ein.«
Tiefes Schweigen folgte seinen Worten, aber in dieser Stille dröhnte die ganze Ungeheuerlichkeit dessen, was er gesagt hatte.
»Wie bitte?«, fragte Virginia nach einer Weile, ebenso fassungslos wie ungläubig.
Andrew wandte sich endlich zu ihr um und schaffte es, ihr in die Augen zu blicken. Er wirkte bekümmert, aber zugleich auch ein wenig erleichtert, wie jemand, der sich entschlossen hat, ein unangenehmes Vorhaben nicht länger aufzuschieben, sondern anzupacken.
»Es tut mir leid, Virginia. Ich hätte es dir längst sagen sollen. Ich bin verheiratet.«
»AberÉ« Sie fasste sich an den Kopf, als könne sie mit dieser Bewegung Ordnung in ihre sich wild überschlagenden Gedanken bringen.
»Ich war in den letzten Wochen ständig drauf und dran, es dir zu sagen. Aber nachdem ich die richtige Gelegenheit am Anfang versäumt hatte, erschien plötzlich jeder Moment unseres Zusammenseins irgendwie unpassend. Ich war zu feige, Virginia. Ich hoffte auf eine günstige Gelegenheit. Ich hätte wissen müssen, dass es in Fällen wie diesem so etwas wie eine günstige Gelegenheit gar nicht gibt. Und dass jeder Tag, den ich verstreichen lasse, alles nur schlimmer macht.«
»Deine FrauÉ«
»Élebt im Moment noch in London. Sie ist dort Lehrerin an einer Schule. Ich bekam die Chance, in Cambridge Partner in einer großen Kanzlei zu werden, und ich musste diese Gelegenheit ergreifen. Für Susan bot sich natürlich nicht zeitgleich eine Möglichkeit für einen beruflichen Wechsel, daher blieb sie vorläufig in London. Im nächsten September kann sie an eine Schule in Cambridge wechseln.«
Sie war wie vor den Kopf geschlagen.
»Ich kann es kaum glauben«, flüsterte sie.
Andrew war mit zwei Schritten bei ihr, kauerte sich neben sie und ergriff ihre Hände.
»Virginia, ich spreche mit Susan«, sagte er. »Ich werde ihr von dir erzählen. Ich werdeÉ alles in Ordnung bringen.«
Immer noch betäubt sah sie zu ihm auf.
»Was heißt das - in Ordnung bringen?«
»Ich werde sie um die Scheidung bitten«, sagte Andrew.

S
päter dachte Virginia oft, dass sie sich genauso verhalten hatte wie manche Frauen, von denen sie gehört und gelesen und die sie verachtet hatte. Frauen, die sich hinhalten, vertrösten und mit äußerst durchsichtigen Argumenten immer wieder beschwichtigen ließen.
Tatsächlich nämlich geschah zunächst nichts. Virginia feierte Weihnachten mit Michael, Andrew mit Susan, und es fanden keinerlei Aussprachen statt. Virginia mochte Michael nicht gestehen, dass sie sich mit einem verheirateten Mann eingelassen hatte und nun darauf warten musste, dass er sich aus seiner Ehe löste, und so sagte sie vorläufig überhaupt nichts. Was bedeutete, dass alles weiterlief wie bisher: Susan Stewart reiste Anfang Januar nach London zurück, und Virginia und Andrew nahmen ihre geheimen Treffen wieder auf. Anstatt sich zu klären, nahm die Geschichte immer konspirativere Züge an. Andrew mochte Virginia nicht mehr, wie noch zu Beginn ihrer Beziehung, in seiner Wohnung empfangen, nachdem alle übrigen Hausbewohner nun wussten, dass es eine Mrs. Stewart gab, und Virginias Ein-Zimmer-Apartment kam wegen Michael nicht in Frage. Also verlegten sie ihre Begegnungen in einsame Landgasthöfe oder kleine Hotels in anderen Städten. Sie fühlten sich unvermindert heftig zueinander hingezogen, verbrachten Stunden voller Leidenschaft und Zärtlichkeit - und schienen sich doch zunehmend in einer gewissen Stagnation zu verfangen. Virginia litt an den Wochenenden, an denen Susan nach Cambridge kam, aber sie sagte sich, dass Andrew auch ihre Nähe zu Michael aushalten musste. Natürlich fragte sie ihn oft, ob er bereits mit Susan gesprochen habe. Andrew begegnete ihren Fragen ausweichend.
»An Weihnachten und Silvester ging es einfach nicht«, sagte er nach den Winterferien, »ich brachte es nicht fertig. Der Dezember ist einfach ein furchtbar sentimentaler Monat.«

S
päter wies er dann häufig auf Susans Stress hin. »Sie war wieder fix und fertig von der Arbeitswoche. Sie hat schreckliche Klassen. Sie muss Beruhigungsmittel nehmen, um morgens überhaupt zur Arbeit gehen zu können. Ich glaube, sie bricht zusammen, wenn ich ihr jetzt mit Scheidung komme.«
Virginia hatte gehofft, er werde ihr zu ihrem Geburtstag Anfang Februar die Aussprache mit Susan gewissermaßen zum Geschenk machen, aber auch diese Vorstellung zerschlug sich. Stattdessen versprach er, er werde mit ihr im Frühling nach Rom fahren. Virginia freute sich, aber sie dachte, dass es nicht das war, was sie beide weiterbringen würde.

S
ie war in der »Ewigen Stadt« noch nie gewesen und verliebte sich auf den allerersten Blick. Das pulsierende Leben, die strahlende Sonne, die Wärme, das Wandern über einen Boden, der von Geschichte getränkt war, faszinierten sie nicht nur, sondern gaben ihr ein andauerndes Leichtigkeitsgefühl, so als habe sie Sekt getrunken. Als sie über die Engelsbrücke auf die Engelsburg zugingen, musste sie einen Moment stehen bleiben und tief atmen, sich fast vergewissern, dass sie nicht träumte. Es kam jedoch gerade auf dieser Brücke im Angesicht der gewaltigen Burg zu einem seltsamen Erlebnis: Sie hatte plötzlich Angst. Von einer Sekunde zur anderen überfiel sie ein panikähnliches Gefühl, sie atmete ein zweites und ein drittes Mal tief durch, nun jedoch, weil ihre Brust auf einmal eng zu werden schien.
»Was ist los?«, fragte Andrew, der neben ihr stand und eifrig fotografierte. Er ließ die Kamera sinken und starrte sie an. »Du bist ja ganz blass!«
»Ich weiß auch nichtÉ«
»Die Sonne«, meinte er. »Komm, wir gehen zurück und setzen uns irgendwo in den Schatten. Es ist wirklich heiß heute, undÉ«
»Nein. Es ist nicht die Sonne.« Der Druck wich, sie spürte, dass wieder etwas Farbe in ihre Wangen zurückkehrte. »Ich hatte auf einmalÉ so ein GefühlÉ als obÉ«
»Ja?«, fragte er, als sie nicht weitersprach.
»Es ist so albern.« Sie strich sich mit der Hand über die Stirn. Sie war schweißnass. »Ich glaubte plötzlich zu wissen, dass das alles bald vorbei ist. Dass ich zum letzten Mal glücklich bin.«
»Was soll bald vorbei sein?«
»Die Leichtigkeit. Ich habe mich lange nicht mehr so leicht gefühlt wie hier in dieser Stadt. In diesem Frühling. Mit dir. Mir kommt das vor wie der Höhepunkt meines Lebens. Danach wird es abwärts gehen.«
»O Gott, mein Liebes, das sind aber verrückte Einbildungen!« Er nahm sie in die Arme. Sie presste ihr Gesicht gegen seine Schulter und lauschte seiner tröstenden Stimme. »Du bist gerade erst dreiundzwanzig Jahre alt! Da beginnt das Leben noch lange nicht abwärts zu gehen. Auf dich warten noch so viele wunderbare Momente. Du wirst sehen.«
Sie fand es befremdlich, dass er gesagt hatte: Auf dich warten noch so viele wunderbare Momente. Warum hatte er nicht gesagt: Auf uns warten noch so viele wunderbare Momente?
Sie sprach ihn darauf an. Er reagierte etwas verärgert. »Meine Güte, Virginia! Musst du jedes Wort von mir auf die Goldwaage legen? Schließlich haben wir gerade von dir gesprochen. Nicht von mir. Du bist wirklich manchmal schwierig.«
Sie sah zur Burg hinüber, dann in die tief unter ihr rauschenden dunklen Fluten des Flusses.

W
ahrscheinlich hatte er Recht. Sie hatte seinen Worten viel zu viel Bedeutung beigemessen. Sie wunderte sich über sich selbst. Fröhlich, wild und lebenslustig, wie sie war, hatte sie nie dazu geneigt, sich in Grübeleien zu stürzen, den unausgesprochenen Worten anderer Menschen hinterherzulauschen. Warum tat sie es jetzt? Ausgerechnet an diesem herrlichen, sonnigen Tag hoch über dem Tiber, zu Füßen der Engelsburg?
Weil mir die ungeklärte Situation mehr zusetzt, als ich vor mir selbst zugeben möchte, dachte sie und drängte diesen Gedanken gleich darauf erschrocken und mit großer Konsequenz zur Seite.
Die zauberhafte Woche mit Andrew in Rom wollte sie sich durch nichts zerstören lassen.
Am Abend gingen sie wieder zur Spanischen Treppe. Das taten sie an fast jedem Abend, denn das kleine, lauschige Hotel, in dem sie abgestiegen waren, lag nur wenige Minuten entfernt. Da es bis tief in die Nacht hinein sommerlich warm war, hielten sich unzählige Menschen dort auf. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.02.2007