31.01.2007 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Wann holen Sie Ihre Tochter ab?«
»Heute Abend.« Sie schob sich die nächste Gabel Rührei in den Mund, aber obwohl sie es zuvor köstlich gefunden hatte, schmeckte es ihr plötzlich nicht mehr. »Ich dürfte Kim eigentlich keinen Moment mehr aus den Augen lassen.«
»Bei der anderen Familie und in Gesellschaft eines weiteren Kindes wird ihr schon nichts passieren«, sagte Nathan beruhigend, »und hier bei Ihnen auch nicht. Aber sie sollte alleine keine längeren Wege unternehmen.«
»Auf keinen Fall.« Sie schob ihren Teller weg. »Nathan, Ihr Rührei schmeckt fantastisch, aber ich fürchte, ich kann im Moment nichts mehr essen. IchÉ«
Er sah sie besorgt an. »Ich hätte jetzt nicht davon anfangen sollen.«
»Ich hätte doch sowieso davon gehört.«
»Was tun Sie heute Morgen? Was tun Sie an so einem kühlen, verregneten Morgen?«
»Ich weiß es nicht. Heute Nachmittag werde ich auf jeden Fall nach KingÕs Lynn fahren. Ich möchte etwas einkaufen. Dann werde ich Livia besuchen. Und dann Kim abholen.«
Er nickte. »Ein guter Plan.«

S
ie hielt sich an ihrer Kaffeetasse fest. Das Porzellan war heiß, die Wärme schien sich von ihren Händen aus langsam über den ganzen Körper auszubreiten; ein tröstliches, beruhigendes Gefühl. Der Wetterumschwung deprimierte Virginia, auf einmal kam ihr das Haus, ihre geliebte, vertraute Höhle, düster und kalt vor. Dazu die Nachricht von dem verschwundenen Mädchen, Frederic mit seinem Drängen und seiner Gereiztheit, das Gefühl, dass sie sich mit Nathan und Livia in etwas verstrickt hatte, das sich zunehmend ihrer Kontrolle entzogÉ Ja, der einzige Trost war tatsächlich diese Tasse mit schönem, heißem Kaffee und die Wärme, die der Herd noch verströmte, nachdem Nathan die Eier darauf gebraten hatte.
Nathan neigte sich vor. In seinen Augen standen Anteilnahme und aufrichtiges Interesse.
»Es geht Ihnen nicht gut, nicht wahr?«
Sie atmete tief. »Doch. Ich habe nur ein paar Probleme, das ist alles.«
»Ein paar Probleme? Die müssen schwerwiegend sein, sonst würden Sie nicht so traurig aussehen.«
Etwas gereizt gab sie zurück: »Es sind meine Probleme!«
»Pardon!« Er lehnte sich wieder zurück, stellte den ursprünglichen Abstand zu ihr her. »Ich möchte nicht zudringlich erscheinen.«
»Schon gut. Es ist nurÉ« Sie stockte schon wieder. Es war ein guter Moment. Er hatte das Wort zudringlich in den Mund genommen. Das war eine Steilvorlage. Jetzt sag es ihm! Sag ihm, dass er hier nicht ewig bleiben kann. Dass er endlich seine Heimreise organisieren muss. Dass es so nicht geht - hier einzuziehen, sich in deinem Haus zu bewegen, als sei es sein eigenes, keinerlei Angaben zu seinen weiteren Plänen zu machen. Mach ihm klar, dassÉ
Er unterbrach ihre Gedanken, noch ehe es ihr gelungen war, die in ihrem Verstand fertig formulierten Sätze auszusprechen.
»Wissen Sie, worüber ich seit gestern Abend nachdenke?«, fragte er. »Ich überlege immerzu, was damals geschehen ist. Denn irgendetwas muss geschehen sein, nicht wahr? Weshalb konnten Sie Michael, den ewigen Jammerlappen, nicht verlassen? Warum hielten Sie Ihre Beziehung zu Andrew Stewart geheim? Und warumÉ sind Sie heute mit Frederic Quentin verheiratet? Und nicht mit Andrew Stewart?«

2
Michael
Etwa sechs Wochen nach ihrer ersten Begegnung erfuhr Virginia, dass Andrew Stewart verheiratet war.
Es war Dezember, kurz vor Weihnachten, und er hatte sie eingeladen, mit ihm über ein verlängertes Wochenende in das Ferienhaus eines Freundes in Northumberland zu fahren. Virginia hatte sich für dieses Wochenende eigentlich vorgenommen, ein langes und ernstes Gespräch mit Michael zu führen, ihm von Andrew und ihrer Beziehung zu erzählen, um sein Verständnis zu bitten und sich dann offiziell von ihm zu trennen. Sie hatte diese Aussprache wochenlang vor sich hergeschoben; sie lag ihr schwer im Magen, und als Andrew von der gemeinsamen Reise sprach, war sie froh, erneut einen Aufschub gewonnen zu haben.

S
ie erzählte Michael etwas von einem Wellness-Wochenende, das sie gemeinsam mit einer Freundin geplant habe, und als er wissen wollte, um welche Freundin es sich handelte, behauptete sie, es gehe um ein Mädchen aus ihrer wilden Londoner Zeit, das er nicht kenne. Sie kam sich ziemlich schäbig vor und schwor sich, dieses Lügenspiel nicht länger zu spielen.
Michael hatte ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, und zudem wollte sie sich endlich in aller Offenheit zu Andrew bekennen.
Northumberland sah in jenem Winter kaum Schnee, dafür Regen und Nebel ohne Ende. Die Welt schien aus kalter, klammer Feuchtigkeit zu bestehen. Das Haus lag sehr einsam, und schon auf dem Weg dorthin blieben sie mit Andrews Auto in einem Schlammloch stecken und mussten im strömenden Regen das Hinterrad mit bloßen Händen freischaufeln, was ihnen erst weit nach Einbruch der Dunkelheit schließlich glückte. Sie waren beide fast erfroren und langten mit nicht einem einzigen trockenen Faden mehr am Körper in dem alten Haus an. Dort empfing sie feuchte, abgestandene Luft und wiederum eisige Kälte. Andrews Freunde waren vergangene Ostern dort gewesen, den Sommer und Herbst über hatte das Haus leer gestanden, und niemand hatte sich in der Zwischenzeit gekümmert.

V
ielleicht war es doch keine so gute Idee, hierher zu kommen«, meinte Andrew, als er feststellte, dass er erst Holz würde hacken müssen, um den einzigen Kamin anzuheizen, während Virginia zitternd und zähneklappernd auf eines der Sofas sank, beide Arme eng um sich schlang und für den Moment offensichtlich zu keiner vernünftigen Handlung mehr in der Lage war.
»DddochÉ esÉ wwwar eine wunÉwunderbare Idee«, erwiderte sie und nieste.
Zum Glück hatte Andrew mehr Energie als sie, und irgendwann am späteren Abend brannte ein warmes Feuer, ein paar Schnäpse wärmten von innen, und Virginia kochte in der herrlich altmodischen Küche einen riesigen Topf Tomatensuppe, von der sie sich in den nächsten beiden Tagen ernährten. Virginia hatte sich bei der Autopanne im Regen leicht erkältet und war während des gesamten Aufenthalts damit beschäftigt, diese Erkältung in Schach zu halten; sie trug ständig einen kratzigen Wollschal um den Hals und lutschte Eukalyptusbonbons, aber auch diese Umstände konnten ihr tiefes Glücksgefühl nicht trüben. In Gummistiefeln und dicken Regenjacken unternahmen sie lange Wanderungen über die nebligen Hochmoore und durch die nassen Täler. Stundenlang begegneten sie keinem einzigen Menschen, nur hin und wieder ein paar Schafen, die mit zotteligem, triefend nassem Fell einsam über ihr Weideland streiften. Virginia, die die Metropole London gewöhnt war und das quirlige Studentenleben von Cambridge, hätte nie geglaubt, dass sie sich im kargen, menschenleeren Norden Englands so wohl fühlen könnte.

N
irgends war ein Ort erreichbar, an dem sie einfach irgendwelchen Vergnügungen hätten nachgehen können. Das nächste Dorf lag sechs Meilen entfernt. In einem kleinen Gemischtwarenladen dort kauften sie Brot und Butter ein, und einmal gingen sie abends in das einzige Pub am Ort. Sie tranken dunkles Bier, lauschten den paar wenigen anwesenden alten Männern, die wild politisierten und stritten, und fuhren dann Hand in Hand und voller Zufriedenheit zu ihrem Häuschen zurück.
Virginia vermisste nichts - keine Partys, keine neuen, aufregenden Menschen, weder Glitzer noch Glamour. Es ging nur um das Zusammensein mit Andrew, in langen, dunklen Dezembernächten voller Zärtlichkeit und an kurzen, verregneten Tagen, die verzaubert schienen.

E
inmal dachte sie an Michael an ihrem letzten Morgen in Northumberland. Sie saß im Schlafanzug vor dem Kamin im Wohnzimmer und trank einen Becher Kaffee, während jenseits des Fensters endlich ein paar Schneeflocken fielen. Aus dem Radio erklang Weihnachtsmusik. Andrew lag, ebenfalls noch im Schlafanzug, auf dem Sofa und bemerkte plötzlich, dass sie minutenlang abwesend aus dem Fenster starrte.
»Was ist los?«, fragte er. »Du bist auf einmal ganz weit weg.«
Sie wandte sich um.
»Ich musste gerade an Michael denken«, sagte sie, »und daran, dass ich ihm noch vor Weihnachten alles über uns erzählen will. Es fällt mir nicht leicht, weißt du. Er hat sich immer an mir festgehalten, ich war immer seine Zuflucht, seine Beschützerin. Aber es ist schrecklich, ihn ständig zu belügen. Und mir graut bei der Vorstellung, dass er Weihnachten ganz allein verbringen muss. Seine Mutter lebt nicht mehr, zu seinem Vater hat er keinen Kontakt. Vielleicht kann er zu meinen Eltern gehen, aber die wohnen inzwischen den größten Teil des Jahres auf Menorca. Er steht ihnen recht naheÉ«
Andrew sagte nichts. Sie dachte, dass er vielleicht keinen Grund sah, sich um das Wohlergehen seines Vorgängers viele Gedanken zu machen.



(wird fortgesetzt)

Artikel vom 31.01.2007