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Es war Bank Holiday, ein Feiertag, und es gehörte sich nicht, um diese Zeit bei anderen Menschen anzurufen. Allerdings war sie fast sicher, dass Frederic sie zu erreichen versuchte. Wenn auch die meisten Geschäfte heute geöffnet hatten, waren doch die Banken traditionsgemäß geschlossen, und er musste nicht arbeiten. Sie lief ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab.
»Ja?«, sagte sie.
»Ich bin es, Frederic. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt?«
»Nein. Ich bin gerade aufgestanden.«
»Hast du dein Kopfweh gestern noch in den Griff bekommen?«
»Nein.«
Er schwieg einen Moment. »Das tut mir leid«, sagte er dann. »Ich wollte natürlich nicht, dass du dich quälst.«
»Ist schon gut. Es ist jetzt vorbei.«
»VirginiaÉ« Es fiel ihm sichtlich schwer, ihr schon wieder zuzusetzen. »Virginia, ich möchte dich wirklich nicht unter Druck setzen, aberÉ hast du noch einmal über meine Bitte von gestern nachgedacht?«
Sie hatte natürlich nicht geglaubt, dass der Fall erledigt sei, aber irgendwie hatte sie gehofft, er werde etwas mehr Zeit verstreichen lassen, ehe er in die nächste Runde ging.
»Es ging mir wirklich nicht gut«, sagte sie, »ich habe eigentlich nicht nachdenken können.«
Er seufzte. »Es fällt mir ziemlich schwer zu verstehen, weshalb das alles überhaupt eine Frage ist, die intensives Nachdenken erfordert.«
Sie wollte nicht aggressiv werden, aber es war schon wieder Schärfe in ihrer Stimme, als sie sagte: »Und mir fällt es schwer zu verstehen, weshalb du deine Karriere nicht allein machen kannst!«
Sie wusste, dass er nun auch den Hörer hätte auflegen können, aber er schien wirklich dringend auf ihre Kooperation angewiesen zu sein, denn in einer betont ruhigen Weise, der man seine mühsame Beherrschtheit anmerkte, erwiderte er: »Lass uns nicht streiten. Ich denke, ich habe dir ausführlich erklärt, weshalb ich dich brauche. Warum versuchst du es nicht wenigstens einmal? Alles, was du tun musst, ist, ein hübsches Kleid in den Koffer zu packen und dich in den Zug nach London zu setzen oder dich von Jack fahren zu lassen. Wir gehen zusammen zu der Party, und ich verspreche dir, dass ich dich, wenn du es dann tatsächlich ganz schrecklich findest, nie mehr um einen derartigen Gefallen bitte.«
Er machte das geschickt, das musste sie zugeben. Er war sanft und freundlich und deutete an, sie nicht dauerhaft zu etwas zwingen zu wollen, was ihr zutiefst zuwider war.
Warum versuchst du es nicht wenigstens einmal?
Sie kam sich so schäbig und so unfair vor, wenn sie weiterhin ablehnte, aber der Gedanke, zu einem Fest mit fremden Menschen zu gehen, die sie unbarmherzig taxieren und womöglich mit hochgezogenen Augenbrauen beurteilen würden, war so schrecklich, dass sie ihn rasch wieder beiseite schieben musste, wenn sie nicht erneut Kopfschmerzen bekommen wollte.
»Ich denke nach«, sagte sie, »das verspreche ich dir. Wirklich. Ich überlege es mir.«
Er war mit dieser Antwort natürlich nicht glücklich, schien aber zu begreifen, dass er mehr für den Moment nicht bekommen würde.
»Gib mir Bescheid, wie du dich entschieden hast«, sagte er und legte auf.
Ich habe mich längst entschieden! Und das weißt du! Warum lässt du mich nicht in Ruhe? Warum gibst du mir das Gefühl, ein furchtbarer Mensch zu sein?

S
ie ging in die Küche. Der Duft von frischem Kaffee und gebratenen Eiern mit Speck wehte ihr entgegen. Nathan stand an der Anrichte, ließ gerade zwei sanft gebräunte Brotscheiben aus dem Toaster springen und legte sie in den Brotkorb.
»Guten Morgen«, sagte er, »schon wach?«
»Schon ist gut.« Etwas missmutig sah sie zu, mit welcher Unbefangenheit er in ihrer Küche hantierte. Er trug Jeans und ein T-Shirt, das zu eng war für seine breiten Schultern und muskulösen Arme, und als sie genauer hinsah, entdeckte sie, dass es ein T-Shirt war, das Frederic gehörte, der weniger athletisch war. Für Nathan war es einfach eine Nummer zu klein.
»Sie sollten T-Shirts in Ihrer Größe tragen«, sagte sie.
»Was?« Er blickte an sich hinunter. »Ach so. Das gehört nicht mir. Ich fand es in Ihrer Wäschekammer auf einem Stapel Bügelwäsche. Meine Sachen sind ziemlich verschwitzt, und da dachte ichÉ Ich hoffe, es stört Sie nicht?«
»Nein. Nein, ist schon okay.« Die Wäschekammer befand sich im Keller. Wieso war er bis in den Keller hinuntergegangen? Wieso streifte er überhaupt derart unbekümmert im Haus herum? Auf einmal empfand sie die Vorstellung als beklemmend, dass sie in ihrem Bett gelegen und geschlafen hatte, während er sich überall umsah. In der nächsten Nacht würde sie jedenfalls ihre Tür abschließen. Sollte er in der nächsten Nacht noch da sein.
Er wird da sein, dachte sie resigniert, wenn ich ihn nicht hinauswerfe. Von allein wird er sich nicht einfach umdrehen und verschwinden.
»Ich wollte heute früh eigentlich joggen«, sagte sie, »aber ich habe glatt verschlafen. Das passiert mir sonst nie.«
»Sie haben sich emotional gestern Abend sehr verausgabt. Kein Wunder, dass Sie müde waren. Und dem Joggen sollten Sie nicht nachtrauern. Draußen herrscht Nieselregen, und es ist ziemlich kalt geworden.«

I
hr fiel erst jetzt auf, dass es in der Küche noch düsterer war als gewöhnlich. Sie bemerkte den Regen, der in feinen Bindfäden vor dem Fenster herabrann.
»Es ist plötzlich Herbst geworden«, sagte sie.
»Bald beginnt der September«, meinte Nathan. »Es werden noch schöne Tage kommen, aber nach dieser Abkühlung wird es wohl nicht mehr wirklich warm werden.«
Auf einmal fühlte sie sich traurig. Und seltsam kraftlos.
Er merkte es. »Kommen Sie. Ein heißer Kaffee ist genau das, was Sie jetzt brauchen. Und ein Toastbrot mit Rührei. Ich mache ziemlich gute Rühreier.«
Sorgfältig richtete er ihr Frühstück auf einem Teller an. Erstaunt, wie angenehm das Gefühl war, umsorgt zu werden, ließ sie sich auf einen Stuhl am Tisch sinken und nahm den ersten Schluck Kaffee. Er war genau richtig. Stark und belebend, aber nicht bitter.
»Sie machen auch einen guten Kaffee«, sagte sie.
Er lächelte. »Ich bin bei uns daheim für die Küche verantwortlich. Man gewinnt Erfahrung im Lauf der Jahre.«
Die Erwähnung seines Zuhauses brachte sie auf einen Gedanken. »Ich habe Sie das gestern gar nicht gefragt - wie geht es Livia?«
»Nicht besser, nicht schlechter.« Er zuckte nicht die Schultern, als er das sagte, aber die Antwort klang wie ein Schulterzucken. Ziemlich gleichgültig.
»Sie waren aber bei ihr?«, hakte sie nach. Sie erinnerte sich, dass er so fröhlich und gelöst von seinem Krankenbesuch zurückgekehrt war, dass sie einen Moment lang durchaus die Möglichkeit in Erwägung gezogen hatte, er sei gar nicht dort gewesen.

E
r sah sie amüsiert an. Inzwischen hatte er ihr gegenüber am Tisch Platz genommen und sich auch einen Kaffee eingeschenkt, auf Toast und Rührei jedoch verzichtet. »Weshalb sollte ich nicht bei ihr gewesen sein? Deswegen hatte ich mir schließlich Ihr Auto ausgeliehen!«
Sie kam sich albern vor. »Ich dachte nurÉ Sie wirkten so ausgeglichen. Ich glaube, wenn mein Mann mit einem schweren Schock im Krankenhaus läge, wäre ich ziemlich bedrückt.«
»Das würde aber an der Situation nichts ändern.«
»Nein. Natürlich nicht.« Betont gleichmütig fügte sie hinzu: »Was sagen eigentlich die Ärzte? Sie haben doch bestimmt mit einem Arzt gesprochen, oder? Wann wird es Ihrer Frau besser gehen?«
Diesmal zuckte er wirklich mit den Schultern. »Da hält man sich mit den Prognosen ziemlich zurück. Denen ist es ja erst einmal wichtig, sie körperlich wieder aufzubauen. Für die Psyche wird man dann wohl eine andere Art von Klinik brauchen.«
»Meinen Sie, sie muss in eine psychiatrische Klinik?«
»Vielleicht. Ich würde es nicht ausschließen. Sie war psychisch schon immerÉ ziemlich labil. Diese Geschichte nun ist natürlich eine Katastrophe für sie.«
Virginia überlegte krampfhaft, wie sie das Thema Rückkehr nach Deutschland am besten anschneiden könnte, vielleicht mit einer Frage nach guten deutschen KlinikenÉ Oder sollte sie direkt auf die deutsche Botschaft zu sprechen kommenÉ Oder ihn ganz unmittelbar fragen, wann er denn nun die Heimreise anzutreten gedenkeÉ
Doch während sie noch nachdachte und mit ihren Hemmungen rang, sagte er auf einmal unvermittelt: »Hier in der
Gegend ist schon wieder ein kleines Mädchen verschwunden.«
»Was?«
»Ich hatte den Fernseher an, während ich das Frühstück machte. Sie berichteten über ein Kind, das kürzlich hier in der Gegend gekidnappt und wenig später ermordet aufgefunden wurde. Und seit gestern wird schon wieder eines vermisst.«
»Das ist ja entsetzlich!« Sie starrte ihn an, vergaß völlig ihre Absicht, ihn auf irgendeine Weise hinauszukomplimentieren. »Ein Mädchen aus KingÕs Lynn?«
»Ja. Sie nannten den Namen, aber ich weiß ihn nicht mehr. Sie wollte zum Kindergottesdienst gehen, kam dort aber nie an. Und ist wohl seither auch nicht mehr aufgetaucht.«
»Wie furchtbar! Wie furchtbar für die Eltern!«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.01.2007