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Ihre Mütter waren Schwestern, eng miteinander verbunden, und ihre Lebensplanung hatte immer beinhaltet, dass sie möglichst nie wirklich voneinander getrennt sein würden. Es war ihnen geglückt, mit ihren Ehemännern in zwei nebeneinander liegenden Häusern in London einzuziehen, und nun hatten sie es auch noch geschafft, ihre Kinder altersmäßig dicht beieinander zu platzieren. Sie hatten gehofft, dass Michael und Virginia wie Geschwister aufwachsen würden, und dazu gehörte auch, dass sie geschwisterliche Gefühle füreinander entwickelten. Die heiße, maßlose Liebe zwischen den beiden hatte niemand erwartet, und manchmal kam sie den beiden Schwestern fast ein wenig bedrohlich vor. Sie beruhigten sich mit dem Gedanken, dass die Kinder noch klein seien und sich das Problem sicherlich in der Pubertät lösen würde.

E
s war eine wundervolle Kindheit, die Virginia und Michael teilten. Sie gingen gemeinsam in die Schule, machten ihre Hausaufgaben zusammen und beschützten einander vor größeren, stärkeren oder rauflustigen Kindern. Genau genommen beschützte Virginia Michael. Sie war nicht nur die Ältere, sie war auch viel selbstbewusster, lauter und unerschrockener. Michael, immer etwas zart und anfällig, hatte es schwer unter den anderen Jungen. Er wurde nicht für voll genommen und galt als Muttersöhnchen. Dass er stets von seiner energischen Cousine, die auch bereit war, die Fäuste für ihn zu schwingen, verteidigt wurde, vergrößerte sein Ansehen nicht gerade, aber wenigstens traute man sich nicht, ihn so ohne weiteres anzugreifen. Niemand mochte sich mit Virginia Delaney anlegen. Sie konnte sehr unangenehm werden, das hatten selbst die stärksten Jungs schon erleben müssen. Michael Clark stand unter ihrem Schutz. Er hätte eine schwierige Schulzeit voller Hänseleien und Demütigungen durchleben müssen, so jedoch gab es zumeist nur Getuschel hinter seinem Rücken und manch anzüglichen Blick, und beides lernte er im Lauf der Zeit zu ignorieren.

S
ie gingen durch dick und dünn. Sie spielten in den kleinen Gärten hinter ihren Elternhäusern wunderbare, fantasievolle Spiele voller Abenteuer und Gefahren. Sie waren Indianer und Piraten und Prinz und Prinzessin. Sie fuhren im Sommer Rollschuh in den Londoner Parks, und im Herbst durchstreiften sie die Stadt, Hand in Hand, auf der Suche nach etwas, wovon sie nicht wussten, was es war. Sie backten Weihnachtsplätzchen zusammen und bestaunten die Spielzeugabteilung von HarrodÕs, und jeder sparte sein Taschengeld, um dem anderen zu kaufen, was dieser am meisten ersehnte. In den Sommerferien fuhren sie mit ihren Eltern zu den Großeltern ans Meer nach Cornwall, und diese Wochen in völliger Freiheit waren es, worauf sie das ganze Jahr über hinfieberten. Die Großeltern hatten ein kleines Häuschen inmitten eines großen, verwilderten Gartens, und wenn man über den hinteren Zaun kletterte und einen kleinen Pfad zwischen Ginster- und Holunderbüschen entlanglief, gelangte man an den Strand; eine kleine Bucht, in der sich stets nur wenige Menschen aufhielten. Der Sand gehörte den Kindern, und auch das Meer. Im Garten der Großeltern gab es Apfelbäume und Kirschbäume, in denen man sitzen und Obst essen konnte, bis man Bauchweh bekam. Virginia und Michael besaßen natürlich ein Baumhaus, in dem sie die Schätze ihrer Sommerferien horteten: Muscheln und seltsam geschliffene Steine, getrocknete Blumen, Bücher, aus denen der Sand rieselte und die voller Eselsohren waren, kleine Zettel, die sie einander schrieben und die voller verschlüsselter Nachrichten waren, die niemand außer ihnen verstehen konnte. In den Ferien gab es keine festen Mahlzeiten, und niemand sagte ihnen, wann sie ins Bett gehen oder dass sie ihre Füße waschen sollten. Mit Einbruch der Dunkelheit sollten sie sich daheim blicken lassen, aber es war ein Leichtes, später noch einmal aus dem gemeinsamen winzigen Schlafzimmer hinauszuklettern, über ein Schuppendach zu huschen, auf die Regentonne zu springen und in der Nacht unterzutauchen. Beide liebten sie es, unter dem Sternenhimmel noch einmal im Meer zu schwimmen, in dieser gewaltigen, schwarzen, bedrohlichen Weite, immer den Atem des anderen neben sich. Sie taten das oft, und nachher lagen sie im warmen Sand und unterhielten sich oder dämmerten ein wenig vor sich hin, und manchmal kehrten sie erst im Morgengrauen nach Hause zurück.

E
s war in einer solchen sternklaren Sommernacht in ihrer verschwiegenen Bucht, als Michael Virginia zum ersten Mal küsste. Auf die Art küsste, wie es in Büchern beschrieben wurde, nicht unschuldig und geschwisterlich, wie es natürlich schon tausendmal geschehen war. Michael war vier Wochen zuvor vierzehn geworden, Virginia bereits im Februar. Sie hatte in diesem Jahr ihre Internats- und Pferdebücher beiseite gelegt und begonnen, richtige Romane zu lesen, und zwar von der Art, die ihre Mutter möglichst nicht bei ihr finden sollte. Es ging in den Büchern um schöne Frauen und starke Männer und um all die Dinge, die sie miteinander taten. Sie hatte Michael, der zu diesem Zeitpunkt noch Bücher wie Robinson Crusoe oder Tom Sawyer liebte, davon erzählt, aber schon damals das Gefühl gehabt, dass er die Faszination nicht recht verstand, die sie trieb, Seite um Seite gierig zu verschlingen. Aber eines hatte er begriffen: dass seine Geliebte einen Punkt erreicht hatte, den er noch nicht kannte, von dem er aber instinktiv ahnte, dass er sich nicht allzu viel Zeit lassen sollte, ebenfalls dorthin zu gelangen. Sie hatte ihm genug erzählt, dass er wusste, welche Art Kuss sie ersehnte, und er gab sein Bestes.
Es war Virginias erster richtiger Kuß. Es war das erste Mal, dass sie nackt im Sand lag und ein Mann sich über sie beugte, seine Zunge in ihren Mund schob und seinen Mund mit ihrem minutenlang verschmelzen ließ. Es war genau das, wovon sie inzwischen hundertmal gelesen hatte.
Als es vorüber war, wusste sie, dass Michael nicht der Mann war, der in ihr die Gefühle zu wecken verstand, die sich in diesem Augenblick hätten einstellen müssen. Sie liebte ihn von ganzem Herzen.
Aber ihr Körper vermochte nicht auf ihn zu reagieren.
Von da an war nichts mehr wie vorher. Sie sprachen nicht darüber - es war das erste Mal, dass sie etwas, das sie beide tief beschäftigte, nicht beredeten -, aber sie spürten es beide. In stillschweigender Übereinstimmung wurde das Thema Heirat nun nicht mehr erwähnt. Und auch sonst begannen sie in dem Herbst, der jenem entscheidenden Sommer folgte, mehr und mehr getrennte Wege zu gehen. Michael blieb der introvertierte, scheue Junge, der er immer gewesen war, vertieft in eine eigene Welt, die vornehmlich aus Büchern und Musik bestand. Virginia entdeckte das Leben draußen, und je mehr sie davon sah, desto mehr wollte sie haben. Sie schminkte sich, trug kurze Röcke, war bald Teil einer großen, fröhlichen, lärmenden Clique, die durch die Pubs und Diskotheken Londons zog. Sie hatte unzählige, heftige Diskussionen mit ihrer Mutter, die ihre Aufmachung zu provokant fand, letztlich aber den Kürzeren zog, weil sich Virginia nicht um ihre Ansichten scherte. Sie hatte den ganzen Winter über viel Spaß, wurde sehr dünn, schlief zu wenig, ließ in der Schule nach, hatte aber Verabredungen und Verehrer ohne Ende.

A
n einem nebligen Januartag erschien Michael ohne Anmeldung bei ihr und überraschte sie in ihrem Zimmer mit einer Zigarette. In der ersten Sekunde hatte Virginia geglaubt, ihre Mutter platze herein, daher drückte sie die Zigarette rasch auf einem Unterteller aus - was ohnehin sinnlos war, da überall im Zimmer der Rauch waberte.
»Ach, du bist es«, sagte sie, als Michael den Kopf hereinsteckte, »du hast mich vielleicht erschreckt!«
»Tut mir leid«, erwiderte Michael. Er kam herein, schloß die Tür hinter sich. Da sie inzwischen in verschiedene Schulen gingen, hatte Virginia ihn länger nicht gesehen. Er war ziemlich gewachsen, aber er wirkte mager und hohlwangig. Sie erschrak, weil er so elend aussah.
»Was ist denn los?«, fragte sie. »Bist du krank?«
»Du rauchst?«, fragte er, statt einer Antwort, indigniert zurück.
»Ab und zu.«
»Wahrscheinlich rauchen alle deine neuen Freunde.«
»Die meisten.«
»Hm.« Er war damit nicht einverstanden, das sah sie ihm an, aber er hätte sie nie offen kritisiert. Er setzte sich neben sie auf ihr Bett und starrte die gegenüberliegende Wand an.
»Meine Eltern lassen sich scheiden«, sagte er unvermittelt.
»Was?«
»Meine Mutter hat es mir gestern Abend gesagt. Aber ich habe so etwas schon geahnt.«
»AberÉ wieso denn? Ich meine - was ist denn passiert?«
»Mein Vater hat eine andere Frau kennen gelernt. Schon letztes Jahr im Oktober. Meine Mutter hat nur noch geweint seitdem. Er ist oft nachts nicht nach Hause gekommen.« Michael zuckte mit den Schultern. »Na ja, und offenbar hat die Neue gewonnen.«
»Das ist ja ein Ding! Kennst du sie?«
»Nein. Ich weiß nur, dass sie Amerikanerin ist und Dad mit ihr nach San Francisco ziehen will.«
»Ach du Schande! So weit weg?«
Michael nickte. »Ich bleibe natürlich hier bei Mum. Es ist schwer für sieÉ sie weint immerzu.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.01.2007