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Sie hatte ihn bitten wollen, darauf zu achten, dass ihn die Walkers nicht sahen, aber plötzlich kam sie sich allzu albern vor. Welches Gewicht verlieh sie ihm damit! Und sie selbst wurde dabei zum Schulmädchen, das fürchtet, bei einer verbotenen Tat erwischt zu werden. Sie hatte nichts zu verbergen, es war nichts geschehen, was Frederic nicht hätte wissen dürfen. Die Walkers konnten ruhig mitbekommen, dass sie Besuch hatte.
Und doch hoffte sie aus tiefster Seele, ihnen würde nichts auffallen.
»Ach, nichts«, sagte sie, »hat sich schon erledigt.«
Er lächelte und verschwand. Kurz darauf hörte sie, wie der Motor ihres Wagens gestartet wurde.
Sofort atmete sie leichter. Sie würde jetzt erst einmal duschen. Dann Frederic anrufen. Dann ein Glas Wein trinken. Sie musste verhindern, dass quälende Gedanken sich in ihr breitzumachen begannen.

3
Sie erreichte Frederic sofort, und zu ihrer Erleichterung musste sie weder lügen noch bestimmte Dinge verschweigen, denn er fragte mit keinem Wort nach ihrem bisherigen Tagesablauf. Stattdessen hatte er Neuigkeiten vorzubringen, und die sprudelte er auch gleich hervor.
»Virginia, Liebste, bist du mir böse, wenn ich ein paar Tage länger in London bleibe? Ich habe einige äußerst wichtige Leute kennen gelernt, die sehr viel Interesse an mir zeigen. Ich müsste an zwei Abendessen teilnehmen, undÉ«
Sie war wie immer: verständnisvoll und zu allen Zugeständnissen bereit. Und ebenfalls wie immer fiel es ihr auch nicht schwer.
»Natürlich bleibst du länger. Das ist gar kein Problem. Ich komme hier gut zurecht.«
»Ja, dann würde es bis Freitag dauernÉ« Er zögerte.
»Ja?« Sie hatte das Gefühl, dass er noch etwas sagen wollte. Und dass er sich damit aus irgendwelchen Gründen schwertat.
»Also, die zwei Abendessen sind am Dienstag und am Mittwoch. Am Freitag findet eine Dinnerparty statt bei Sir James Woodward.«
Der Name sagte ihr nichts. Aber alle Alarmsignale in ihr leuchteten auf.
»Sir Woodward sitzt im Unterhaus. Er ist einer der einflussreichsten Männer dort«, erläuterte Frederic. »Bei ihm zu einer Dinnerparty eingeladen zu sein, das istÉ ja, das ist das Wichtigste, was passieren kann, undÉ«

E
s war immer alles so unendlich wichtig. Und am wichtigsten. Und am allerwichtigsten. Und sie wusste genau, was er wollte.
»Nein, Frederic«, sagte sie.
»Schatz, Virginia, nur dieses eine Mal! Es geht einfach nicht, dass ich ohne meine Frau dort erscheine. Ich muss schon viel zu oft Erklärungen abgeben und habe langsam das Gefühl, dass mir keiner mehr glaubt. Du hast entweder die Grippe, oder das Kind ist krank, oder wir haben komplizierte Umbauten am Haus, die du beaufsichtigen musstÉ mir fällt allmählich wirklich nichts mehr ein.«
»Dann erfinden wir doch einfach einen Beruf, dem ich nachgehe. Eine berufstätige Frau kann nicht zwischen London und KingÕs Lynn hin- und herjetten, so wie es die politischen Ambitionen ihres Mannes gerade erfordern!«
»Das habe ich dir doch schon so oft erklärt. InÉ diesen Kreisen engagieren sich auch die berufstätigen Frauen für die Karrieren ihrer Männer. Man trennt das nicht so: hier sein Job, dort ihrer.«
»Verstehe. Sein Job ist ihr Job.«
»VirginiaÉ«
»Das Frauenbild ist ein bisschen vorsintflutlich, oder?«
»In der konservativen ParteiÉ«
»Könnte es sein, dass du in der falschen Partei bist?«, schnauzte sie ihn an.
Er seufzte tief, aber es war kein resigniertes Seufzen. Virginia hatte feine Antennen. In diesem Seufzer klang großer Ärger.
»Darüber möchte ich jetzt nicht diskutieren«, sagte er. »Ich bin in genau der Partei, mit deren Konzepten und Wertvorstellungen ich mich identifizieren kann. Ich strebe eine Karriere in dieser Partei an. Das ist mein gutes Recht, und wenn du nicht immer nur über dich und deine Befindlichkeiten nachdenken würdest, wärest du vielleicht auch einmal stolz auf mich oder würdest sogar versuchen, mich zu unterstützen.«
Vom Nacken her stiegen Schmerzen hoch. Feine, leise Nadelstiche. Sie würde heftiges Kopfweh bekommen.
»FredericÉ«

Er ließ sie nicht ausreden. Er war wütend und frustriert. »Ausgerechnet du kommst daher und redest von einem vorsintflutlichen Frauenbild. Ich meine, wenn du tatsächlich einem Beruf nachgingest und eine tolle Karriere hinlegen würdest, dann würde ich mir das vielleicht noch sagen lassen. Aber du hast ja nie nach deinem Studium wirklich gearbeitet. Immer nur irgendwelche Gelegenheitsgeschichten. Und zwar nicht wegen mir oder meiner so schrecklich rückständigen Partei! Sondern weil du es so wolltest. Was machst du denn schon den ganzen Tag? Du ziehst unsere Tochter groß und gehst joggen. Das ist alles. Also tu doch nicht so großartig emanzipiert!«
Der Schmerz wurde stärker. Eigentlich hätte sie jetzt sofort eine Tablette nehmen müssen, um das Schlimmste vielleicht noch zu verhindern. Aber aus irgendeinem Grund gelang es ihr nicht, das zu sagen, den Hörer aufzulegen und zum Badezimmer zu gehen. Sie stand wie festgewurzelt und hörte fassungslos seiner Wut zu.

S
ie schwiegen beide einen Moment. Frederic atmete tief durch. Sie wusste, dass er diese Dinge nicht hatte sagen wollen und dass er vermutlich schon in diesem Augenblick bereute, es getan zu haben. Dass es aber genau das war, was er dachte.
»Ich möchte nicht mit dir streiten«, sagte er ruhiger, »und es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe. Aber ich bestehe darauf, dass du am Freitag an dieser Dinnerparty teilnimmst. Es geht nicht anders. Bitte komm nach London.«
»KimÉ«
»Kim wohnt von Freitag auf Samstag bei den Walkers. Sie mag Grace und Jack sehr, und beide werden sie gnadenlos verwöhnen. Das ist gar kein Problem. Virginia, Himmel noch mal, es geht um eine Nacht!«
Es ging um so viel mehr. Aber wie sollte sie ihm das erklären?
»Ich habe schreckliches Kopfweh«, sagte sie endlich, »ich muss unbedingt eine Tablette nehmen.«
»Wir telefonieren morgen wieder«, sagte Frederic und legte auf.
Kein Abschiedsgruß, kein Ich liebe dich. Er war wirklich böse auf sie. Frederic wurde selten ungehalten, zumindest zeigte er seinen Ärger praktisch nie. Wenn er es jetzt tat, dann musste er über ihr Verhalten wirklich sehr erzürnt sein.
Weil diese Party wohl wirklich sehr wichtig war.

D
ie Schmerzen begannen sich wellenförmig in ihrem Kopf auszubreiten. Sie schlich ins Bad, kramte im Schrank nach den Tabletten. Als sie ans Waschbecken trat, um Wasser in ein Glas laufen zu lassen, sah sie ihr Bild im Spiegel. Sie war kreidebleich, ihre Lippen waren grau. Sie sah aus wie ein Gespenst.
Mein Mann hat mich gebeten, ihn zu einer für ihn wichtigen Dinnerparty zu begleiten. Daraufhin bekam ich migräneartige Kopfschmerzen und sah innerhalb weniger Minuten aus wie eine Schwerkranke.
Wären das die Worte, mit denen sie einem Psychotherapeuten ihr Problem schildern würde?
War sie reif für eine Therapie?
Sie schluckte zwei Pillen, taumelte dann ins Wohnzimmer und streckte sich auf dem Sofa aus. Es wäre besser gewesen, ins Schlafzimmer zu gehen, sich in ihr Bett zu legen und die Fensterläden zu schließen, aber sie tat es nicht, weil Nathan Moor dann, wenn er zurückkehrte, unweigerlich sofort erkennen würde, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Er blickte ohnehin schon viel zu tief in sie hinein, sprach Dinge an, über die sie nicht reden wollte. Nicht auszudenken, wenn er sie so am Boden zerstört vorfand.
Sie merkte allerdings bald, dass es ihr kaum gelingen würde, ihm vorzuspielen, alles sei in Ordnung. Die Schmerzen tobten in ihrem Kopf, schienen eher schlimmer als besser zu werden. Sie hatte das Medikament entweder zu spät genommen oder sich einfach schon zu sehr daran gewöhnt, es half jedenfalls nicht mehr richtig. Außerdem wuchs mit jeder Minute ihre Verzweiflung, das Gefühl, auf schreckliche Art zu versagen, ein Mensch ohne echten Wert zu sein.
Was machst du schon den ganzen Tag? Du ziehst unsere Tochter groß und gehst joggen!

E
r hatte noch nie so böse und verletzend mit ihr gesprochen. Ihr noch nie so gnadenlos einen Spiegel vorgehalten, in dem sie ein derart vernichtendes Bild von sich selbst erkennen musste. Sie hatte keinen Beruf, keine Karriere, nicht einmal ein groß angelegtes Wohltätigkeitsprojekt, in das sie Zeit und Kraft hätte investieren können. Sie saß in diesem riesigen Haus, kümmerte sich um ein Kind, das sie - wer hatte ihr das eben noch gesagt? Nathan Moor? - in absehbarer Zeit nicht mehr rund um die Uhr brauchen würde. Sie trabte ihre Runden durch den Park, und wenn eine andere Mutter sie zum Tee einlud, entzog sie sich mit der Begründung, wichtige Verpflichtungen zu haben. Sie weigerte sich, die Karriere ihres Mannes zu unterstützen, lehnte kleinste Gefälligkeiten, um die er sie bat, rundheraus ab. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.01.2007