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Ich fange schon an, Haken zu schlagen wie ein Hase, dachte sie, und das alles wegen eines Mannes, den ich bis vor kurzem überhaupt nicht kannte. Ich sollte ihn zum Teufel schicken.
Sie hielt irgendwo an und zog sich Zigaretten aus einem Automaten. Sie hatte seit Ewigkeiten nicht mehr geraucht - seit sie Frederic kannte, genau genommen, denn er mochte es nicht, wenn Frauen rauchten -, aber plötzlich verspürte sie ein ungeheures Bedürfnis nach einer Zigarette. Im Wagen war es ihr zu heiß, und so ging sie auf der Straße auf und ab und rauchte hektisch. Eine etwas schmuddelige Gegend, Wohnblocks, die ungepflegt und trostlos wirkten, verschönert nur durch den strahlend blauen Augusthimmel und die warme Sonne. Ein paar Geschäfte, eine Reinigung, die so gammelig wirkte, dass man sich nicht vorstellen mochte, Kleider dort abzugeben. Alles sonntäglich ausgestorben. Von irgendwoher dudelte Radiomusik.

Virginia empfand ein Gefühl der Beklemmung, das sie sich mit der ungewohnten Situation erklärte. Für den Moment war es, als sei sie eine andere. Nicht Virginia Quentin, die Frau des reichen Bankiers Frederic Quentin, der vielleicht demnächst eine herausragende Persönlichkeit in der politischen Szene seines Landes darstellen würde. Virginia Quentin mit dem Herrenhaus, dem großen Park, dem Verwalterehepaar. Mit dem Ferienhaus auf Skye und der Wohnung in London. Diese Virginia Quentin verirrte sich für gewöhnlich nicht in den heruntergekommenen Gegenden der Stadt. Sie stand nicht auf irgendeinem Bürgersteig herum und rauchte. Ihr Leben verlief in Bahnen, die dies gar nicht zuließen.
Um dem allen die Krone aufzusetzen, warf sie ihre zu Ende gerauchte Zigarette auf den Asphalt, trat sie mit dem Absatz ihres teuren Schuhs aus und zündete sich die nächste an.
Die Frage, die Nathan ihr zuletzt gestellt hatte, dröhnte plötzlich wieder in ihrem Kopf. Wohin ist diese wilde, lebendige Frau verschwunden? Und warum?
Die verschwundene Frau hatte geraucht. Sie hatte sich in Vierteln herumgetrieben, in die sich ein anständiges Mädchen keinesfalls begeben sollte. Sie hatte Haschisch und Kokain ausprobiert, sie hatte manchmal zuviel Alkohol erwischt, und es war vorgekommen, dass sie in fremden Betten neben fremden Männern aufwachte und nicht zu sagen wusste, wie sie dorthin geraten war. Die verschwundene Frau war außerordentlich lebensgierig gewesen und hatte dabei allzu oft jede Vorsicht außer Acht gelassen. Sie hatte das Risiko gesehen, aber ihm auszuweichen hätte Verzicht bedeutet. Sie wollte alles, und sie wollte es ohne Einschränkung.
Jede andere Lebensform hätte sie als tot sein empfunden.
Und das war immer die schlimmste Vorstellung gewesen.
Virginia warf ihre zweite Zigarette, obwohl erst zur Hälfte geraucht, auf den Asphalt, trat sie so gründlich und nachdrücklich aus, als wolle sie eigentlich etwas löschen, das in ihrem Kopf zu flackern und zu brennen begann.
Trotz der Hitze setzte sie sich ins Auto, schloss sogar Türen und Fenster. Sie war immer noch zu früh dran, sie konnte Kim noch immer nicht abholen. Sie verschränkte ihre Arme auf dem Lenkrad, ließ ihren Kopf darauf sinken. Sie wollte weinen, aber es gelang ihr nicht.

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ie hatte so lange Zeit im Auto gesessen, dass sie nun sogar ihre Tochter zu spät abholte. Alle anderen Gäste waren schon weg, das Geburtstagskind und Kim schaukelten friedlich im Garten nebeneinander. Als die Kleine begriff, dass nun auch der letzte Gast gehen sollte, fing sie zu weinen an.
»Es ist immer schwierig für ein Kind, wenn ein so schönes Fest endgültig vorüber ist«, sagte die Mutter. »Was meinen Sie, Mrs. Quentin, könnte Kim nicht noch bis morgen bleiben?

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ann ist das Ende nicht so abrupt, und die beiden Mädchen könnten noch ein bisschen miteinander spielen. Schließlich bricht jetzt die letzte Ferienwoche an.«
Für gewöhnlich hätte Virginia Kim dieses Vergnügen gern gegönnt, aber in ihrer augenblicklichen Situation war es ihr gar nicht recht. Noch immer saß Nathan Moor bei ihr zu Hause herum, und sie hatte keine Ahnung, wann er zu gehen beabsichtigte. Sie mochte nicht länger mit ihm allein sein, und die Anwesenheit der kleinen Kim hätte sie als außerordentlich entspannend empfunden. Aber das konnte sie der anderen Mutter natürlich nicht sagen, und ihr fiel auch keine Ausrede ein. Zudem würde sich zwangsläufig ein anderes Problem ergeben, wenn sie Kim mitnahm: Sie konnte dann nicht länger vor Frederic geheim halten, dass Nathan bei ihr Aufnahme gefunden hatte.
Sie vereinbarten, dass Kim am nächsten Abend geholt werden sollte, und beide Mädchen brachen in ein Freudengeheul aus. Virginia wurde noch zu einer Tasse Tee eingeladen, was sie jedoch dankend ablehnte. Zwar hatte sie es nicht eilig, heimzukommen, aber es schien ihr unerträglich, nun mit dieser netten, biederen Frau, in deren Leben alles in Ordnung zu sein schien, Tee zu trinken und über Belanglosigkeiten zu plaudern. Als sie wieder im Auto saß, dachte sie jedoch darüber nach, wie sehr sie bereit war, dem Bild zu trauen, das die äußere Fassade um einen Menschen herum abgab. Woher wollte sie wissen, ob im Leben dieser Frau alles in Ordnung war? Nur weil sie in einem gepflegten Reihenhaus lebte, in dessen Garten die Blumen nach Farben angeordnet waren? Weil sie eine Dauerwelle und etwas vorstehende Zähne hatte? Weil über ihr offenbar nicht das Damoklesschwert hing, Politikergattin werden zu müssen?

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ie überlegte, welche Fassade die anderen wohl bei ihr wahrnahmen. Freundlich, aber unnahbar? Vielleicht nannten sie sie einfach arrogant. Sie nahm nie an den Aktivitäten der anderen Mütter teil, murmelte immer irgendetwas von anderen Verpflichtungen. So, wie sie eben die Einladung zum Tee abgelehnt hatte. Die Frau, in deren Leben alles in Ordnung zu sein schien, hatte traurig gewirkt. Vielleicht war sie einsam. Wo war ihr Mann an diesem Sonntagnachmittag? Virginia hatte ihn nicht gesehen.
Sie traf Nathan auf der Terrasse an, wo er im Liegestuhl lag und in einem Buch blätterte. Das Buch musste er aus der Bibliothek geholt haben, aber Virginia sagte sich, dass das in Ordnung war. Er musste nicht herumsitzen und sich langweilen. Hauptsache, er stöberte nicht wieder in Schubladen herum.
»Da sind Sie ja«, sagte er. »Sie waren lange weg. Ich fing schon an, mir Sorgen zu machen.«
»Wie spät ist es denn?«, fragte Virginia.
»Gleich halb fünf.« Er erhob sich von seinem Liegestuhl und kam auf sie zu. »Sie haben geraucht«, stellte er fest.

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rgendwie empfand sie auch diese Bemerkung schon wieder als aufdringlich, hätte aber nicht genau zu sagen gewusst, weshalb eigentlich. Daher überging sie seine Feststellung und sagte: »Kim wollte noch ein bisschen bei ihrer Freundin bleiben. Sie übernachtet jetzt noch einmal dort. Ich habe mit der Mutter noch einen Tee getrunken.« Sie wollte seinen Eindruck, sie sei eine völlig zurückgezogen lebende, einsame Frau, zerstreuen. Er sollte sehen, dass sie ganz normale Dinge tat. Zugleich fragte sie sich, weshalb ihr überhaupt etwas an seiner Meinung lag.
Es hatte den Anschein, dass er ihr nicht glaubte - was sie verunsicherte -, aber das mochte Einbildung sein.
»Ich würde gerne Livia im Krankenhaus besuchen«, sagte er, »würden Sie mir Ihren Wagen leihen? Als ich hierher kam, bin ich zu Fuß gegangen, aber ich muss zugeben, das schaffe ich nicht jeden Tag.«
Sie reichte ihm ihren Autoschlüssel, wissend, dass Frederic sich erneut die Haare raufen würde. Als ahnte er, was sie dachte, sagte Nathan: »Ihr Mann hat übrigens angerufen.«
»Frederic?« Sie bekam einen Riesenschreck. Frederic rief an und hatte Nathan Moor am Apparat! Genau das hatte sie vermeiden wollen. »Sie haben mit Frederic gesprochen?«
Er hob abwehrend beide Hände und grinste. »Wo denken Sie hin! Nein! Ich gehe doch nicht an fremde Telefone. Der Anrufbeantworter lief, und man konnte mithören. Frederic sagte jedoch nicht viel, er bat eigentlich nur um Rückruf.«
Ihr fielen jede Menge Steine vom Herzen. »Gut. Dann rufe ich ihn gleich zurück.«
»Oder möchten Sie mich zu Livia begleiten?«
»Nein.« Es wäre durchaus sinnvoll gewesen, dies zu tun, zumal sie unerwarteten Freiraum durch Kims Abwesenheit hatte, aber sie mochte die Vorstellung nicht, mit ihm im Auto zu sitzen. Sie mochte überhaupt keine Nähe zu ihm.
Okay. Dann bis später!« Er wandte sich zum Gehen. Er sah sehr lässig aus in seinen fleckigen Jeans, ein ebenfalls nicht ganz sauberes weißes T-Shirt darüber. Nicht gerade korrekt gekleidet für einen Krankenhausbesuch. Was ihm, wie ihn Virginia einschätzte, egal war. Oder, dachte sie plötzlich, er will vielleicht gar nicht ins Krankenhaus. Er fährt ein bisschen in der Gegend herum und geht einen trinken.
Seltsamerweise hatte sie keinen Moment lang die Befürchtung, er könne mit dem Auto verschwinden. Sie empfand ihn als durchaus zwielichtig, hielt einen Diebstahl jedoch für ausgeschlossen.
Er war schon fast um die Ecke der Terrasse verschwunden, als sie ihn noch einmal rief. »Nathan!«
»Ja?« Er blieb stehen, wandte sich um. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.01.2007