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Dann bekomme ich auch wieder Geld, ja. Virginia, es ist ja nicht so, dass ich für alle Zeiten am Ende bin. Aber wir haben im Moment kein Haus, keine Wohnung, keine Möbel. Und völlig leer geräumte Bankkonten. Die werden sich wieder füllen, aber nicht von heute auf morgen.«
Völlig leer geräumte BankkontenÉ Sie konnte sich vorstellen, was Frederic zu einer so leichtsinnigen Verhaltensweise gesagt hätte. Es war wirklich ein Glück, dass er an diesem Wochenende nicht da war.
Nathan war nach dem Essen gleich schlafen gegangen. Sie hatte ihm ansehen können, wie müde er war. Er hatte sich kaum noch auf den Beinen halten können, seine Augen waren gerötet gewesen.
Jetzt, etwa fünfzehn Stunden später, war er ein völlig neuer Mensch. Ausgeruht und entspannt. Seine tief gebräunte Haut wirkte nicht mehr so fahl wie am Vortag.
»Ich habe lange nicht mehr so tief geschlafen«, sagte er nun, »eigentlich seit dem Unglück nicht mehr.«
Sie stellte eine Tasse mit Kaffee vor ihn hin, setzte sich ihm gegenüber. »Ich freue mich, dass es Ihnen besser geht. Werden Sie heute Livia besuchen?«
»Ich fahre nachher zu ihr, ja. Mögen Sie mitkommen?«
»Ich muss meine kleine Tochter von einer Geburtstagsfeier abholen«, sagte Virginia bedauernd, »ich dachte, ich besuche Livia vielleicht morgen.«
»Schön. Das wird sie freuen.« Er sah sich in der Küche um. »Was machen Sie hier so den ganzen Tag, Virginia? Noch dazu, wenn Ihr Mann nicht da ist? Sie sind eine fantastische Köchin, wie ich Ihnen gestern schon sagte, aber Sie verbringen doch sicher nicht all Ihre Zeit hier in der Küche?«

D
ie Frage überraschte sie. Sie überlegte kurz, ob sie sie als zu indiskret empfand. In Nathans Augen las sie freundliches Interesse.
»Nicht hier in der Küche, nein. Aber ich bin viel daheim. Im Haus, im Park. Ich bin gern hier.«
»Zusammen mit Ihrer Tochter.«
»Ja. Kim braucht mich. Gerade, weil ihr Vater so selten zu Hause ist.«
»Ihr Mann ist Politiker?«
Sie war erstaunt, dass er das wusste. »Er engagiert sich in der Politik. WoherÉ?«
»Im Zug hierher las ich etwas über ihn in der Zeitung. Er strebt einen Sitz im Unterhaus an.«
»Er könnte es schaffen.«
»Dann sind Sie aber noch viel mehr allein.«
»Ich fühle mich nicht allein.«
»In der fast ausschließlichen Gesellschaft eines siebenjährigen Kindes fühlen Sie sich nicht allein?«
»Nein.« Sie hatte plötzlich das Gefühl, sich zu verteidigen. Und dieses Gespräch nicht zu wollen.
»Ihre Tochter wird älter werden. Sie wird irgendwann eigene Wege gehen. Dann sind Sie immer häufiger ganz allein in diesem großen Haus. Umgeben von diesem riesigen Park. Von diesen mächtigen Bäumen, die fast die Sicht auf den Himmel nehmen.«
Sie lachte unecht. »Jetzt übertreiben Sie aber. Nathan, ichÉ« Ihr Hals begann schon wieder eng zu werden. Wie am Vortag zwischen all den anderen Müttern. Er kam zu nah. Er kam viel zu nah.

E
r kramte in seiner Hosentasche und zog etwas hervor. Sie erkannte nicht sofort, was es war, aber dann begriff sie, dass es sich um eine Fotografie handelte. Irgendein leicht zerknittertes Bild.
»Das«, sagte er, »fand ich gestern Abend. In der untersten Kommodenschublade im Gästezimmer. Da sind eine Menge Fotos in Briefumschlägen untergebracht.«
Sie brauchte einen Moment, die lässige Gleichmütigkeit zu verdauen, mit der er das sagte.
»Schauen Sie in fremden Häusern immer in Schubladen?«, fragte sie schließlich.
Er ging darauf nicht ein, sondern betrachtete das Bild. »Das sind Sie«, sagte er, »vorÉ vielleicht fünfzehn Jahren? Mit Anfang zwanzig, würde ich schätzen.«

E
r reichte ihr das Foto. Es zeigte eine junge Frau im wadenlangen Zigeunerrock, ein T-Shirt mit Fransen an Saum und Ärmeln dazu. Die taillenlangen Haare fielen ihr offen über die Brust. Sie lachte. Sie war barfuß. Sie saß auf der Spanischen Treppe in Rom zwischen hundert anderen Menschen. In ihren Augen war ein erregtes, freudiges Funkeln.
»Dreiundzwanzig«, sagte sie, »dreiundzwanzig bin ich auf diesem Foto.«
»Rom«, sagte er. »Rom im Sommer.«
»Im Frühling.« Sie musste schlucken. Sie wollte nicht an Rom denken. Sie wollte, dass Nathan sofort verschwand und sie in Ruhe ließ.
Sie schob ihren Stuhl zurück. »NathanÉ«
Er beugte sich über den Tisch, nahm ihr sanft das Foto aus den Händen.
»Ich muss es immer wieder ansehen«, sagte er. »Und seit gestern Abend kann ich mir nur immer wieder eine einzige Frage stellen: Wohin ist diese wilde, lebendige Frau verschwunden? Und warum?«
Sie war entrüstet, aber so richtig wollte es ihrer Entrüstung nicht gelingen, sich in echte Wut zu verwandeln. Er ging eindeutig zu weit. Ihre Adresse hatte er aus einer Schublade im Ferienhaus in Skye. Nun kam er hierher, brachte seine Frau im nächstgelegenen Krankenhaus unter und rechnete damit, dass er unter diesen Umständen Aufnahme in ihrem Haus finden würde, eine Kalkulation, die tatsächlich aufgegangen war. Kaum hatte er hier sein Nachtlager aufgeschlagen, stöberte er schon wieder in Schränken herum, die ihn nichts angingen. Und stellte Fragen, die vielleicht ein enger, langjähriger Freund hätte stellen dürfen - niemals jedoch ein Fremder. Lächelnd und gleichmütig verletzte er ihre Grenzen.
Und das alles, weil sie ganz offensichtlich am Anfang zu weich gewesen war.

W
ar es so? Lag es an ihr? Nach ihrem Gefühl hatte sie sich einfach nur freundlich und hilfsbereit gegenüber in Not geratenen Mitmenschen gezeigt. Livia hatte eine Woche lang für sie gearbeitet, sie hatte die junge Frau sympathisch und nett gefunden und das Bedürfnis verspürt, ihr zu helfen, als sie in Not geriet. Und Livia hatte sich im Übrigen daraus keinerlei aufdringliches Verhalten angemaßt. Sie hatte die Kleider dankbar angenommen, die Virginia ihr brachte, sie war auch im Ferienhaus eingezogen, aber weder hatte sie dort herumgeschnüffelt, noch war sie anschließend ihren Wohltätern nach Norfolk nachgereist. Vermutlich würde sie sich, wäre sie allein, schon längst wieder in Deutschland befinden.
Es war Nathan, der sich nicht abschütteln ließ.

H
atte Frederic einen so viel besseren Instinkt als sie? Sie kannte Frederic als einen ebenfalls hilfsbereiten Menschen, der andere nicht im Stich ließ, wenn sie ihn brauchten. Im Fall des deutschen Ehepaars jedoch war er von Anfang an zurückhaltend, später sogar ablehnend gewesen. Und offenbar hatte er damit richtig gelegen.
Sie hatte Nathan nicht geantwortet. War stattdessen aufgestanden und hatte erklärt, Kim jetzt von der Geburtstagsparty abholen zu müssen. Er hatte gelächelt. Sie hätte ihm am liebsten gesagt, er solle verschwinden, aber aus irgendeinem Grund kamen ihr diese Worte nicht über die Lippen. Also ging sie zu ihrem Auto und ließ ihn auch noch allein in ihrem Haus zurück, als sei er ein Mensch, den sie seit Jahren kannte, dem sie bedingungslos vertraute.

W
er weiß, was er diesmal aus den Schubladen fischt, dachte sie, während sie den Wagen über die Landstraße steuerte. Wenn sie ihn schon nicht fortschickte, hätte sie ihn wenigstens mitnehmen müssen. Aber um nichts in der Welt hätte sie mit ihm in einem Auto sitzen mögen. Für den Moment wollte sie so viel Abstand wie möglich.
Dass er ausgerechnet das Foto aus Rom gefunden hatte, war natürlich nichts als ein dummer Zufall, aber es hatte sie erschüttert. Sie hatte gar nicht mehr gewusst, wo sich ihre Bilder von früher eigentlich befanden, hatte ihr Vorhandensein irgendwie verdrängt. In einer Schublade im Gästezimmer alsoÉ Bei nächster Gelegenheit würde sie sie nehmen und zum Müll werfen, natürlich ohne sie noch einmal einzeln anzusehen. Im Wohnzimmer hatte sie eine lange Reihe ledergebundener Fotoalben stehen, ordentlich mit den ihren Inhalt betreffenden Jahreszahlen beschriftet und manchmal auch mit einem Hinweis auf das, was sie enthielten, versehen. Ostern auf Skye 2001 etwa oder: Fünfter Geburtstag Kim. Auf dem ersten Album stand: Hochzeit Frederic/Virginia 1997. Mit der Hochzeit begann die Serie. Aus der Zeit davor gab es keine Alben. Offiziell auch keine Bilder. Wenn irgend möglich nicht mal eine Erinnerung.

A
ußer es kam jemand wie Nathan daher, der stöberte und suchte, forschte und Fragen stellte, die an Indiskretion nicht mehr zu überbieten waren.
Sie war viel zu früh losgefahren, nur um Nathan zu entgehen. Um halb vier sollten die Kinder abgeholt werden, und es würde nur Verärgerung auslösen, wenn sie allzu zeitig hineinplatzte. Sie hatte ebenfalls schon Partys für Kim veranstaltet und wusste, wie die Eltern dabei beansprucht wurden, auch ohne dass noch jemand erschien und das Programm durcheinanderbrachte. Kurz überlegte sie, dass sie noch rasch Livia besuchen könnte, aber dann hatte sie Angst, dass auch Nathan dort aufkreuzen würde.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.01.2007