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Als sie dort jedoch ankam, war die Tür schon fest verschlossen, und ringsum war niemand zu sehen, weder Kinder noch Eltern. Der reguläre Gottesdienst war seit eineinhalb Stunden vorüber. Der gepflasterte Platz vor der Kirche lag still und ausgestorben in der heißen Mittagssonne.
»Das kann doch nicht wahr sein«, flüsterte sie, »lieber Gott, bitte lass sie mich schnell finden. Ganz schnell!«
Sie überlegte, wie der Mann hieß, der die Veranstaltung für die Kinder leitete. Rachels großer Schwarm. Don natürlich, aber wie mit Nachnamen? Hatte Rachel seinen Nachnamen überhaupt je erwähnt?
Bleib ruhig, Claire, ermahnte sie sich und versuchte, tief durchzuatmen, bleib jetzt ruhig und denke nach. Du musst die Nerven behalten.
Es war wichtig, dass sie mit Don sprach. Wenn jetzt jemand Auskunft geben konnte, dann er. Vielleicht wusste Julias Mutter, wie er hieß und wie man ihn erreichen konnte.
Fünf Minuten später stand sie vor Julias Elternhaus. Sie war gerannt, aber sie merkte kaum, dass sie am ganzen Körper in Schweiß gebadet war. Ihr Atem ging keuchend.
Julias Mutter öffnete und erkannte sofort, dass Claire ihre Tochter offensichtlich nicht gefunden hatte.
»Kommen Sie herein«, sagte sie, »an der Kirche war keine Spur?«
»Nichts. Da ist kein Mensch mehr.«
»Nun machen Sie sich nicht allzu viele Gedanken«, sagte Julias Mutter, »bestimmt gibt es eine ganz vernünftige Erklärung. Sie werden schon sehen.«
»Ich möchte den Lehrer anrufen«, erwiderte Claire. »Don. Wissen Sie, wie er heißt? Oder haben Sie eine Telefonnummer?«
»Donald Asher. Und die Nummer habe ich auch. Kommen Sie, rufen Sie gleich von uns aus an.«
Zwei Minuten später hatte Claire Donald Asher am Apparat. Was sie erfuhr, ließ ihre Knie weich werden und jagte ihr ein Schwindelgefühl durch den Körper, dass sie einen Moment lang meinte, ohnmächtig zu Boden zu fallen.
»Rachel war heute gar nicht da«, sagte er, »und ihre Freundin Julia auch nicht. Aber es fehlten etliche Kinder. Bei dem schönen Wetter fand ich das nicht ungewöhnlich und dachte mir nichts weiter.«
Sie war nicht da?«, flüsterte Claire. »Aber sie ist pünktlich daheim weggegangen.«
Es war deutlich, dass diese Information Donald nun auch bestürzte, aber er versuchte, die verzweifelte Mutter zu beruhigen. »Vielleicht hatten sie und Julia einfach keine Lust und sind stattdessenÉ«
»Julia liegt mit Halsschmerzen im Bett«, unterbrach ihn Claire. »Sie und Rachel waren heute überhaupt nicht zusammen. Sie treffen sich ja auch meist erst bei Ihnen, weil Julia für gewöhnlich vorher mit ihren Eltern in die Kirche geht.« »Jetzt denken Sie nicht gleich das Schlimmste«, meinte Donald, »Kinder machen sich oft keine Vorstellung davon, in wie viel Angst und Schrecken sie uns versetzen. Vielleicht ist sie in einem Park, träumt vor sich hin und vergisst völlig die Zeit.«

D
as passte nicht. Claire kannte ihre Tochter besser. Rachel saß nicht einfach in einem Park und träumte. Hätte sie aus irgendeinem Grund plötzlich beschlossen, heute nicht in die Sonntagsstunde zu gehen, dann wäre sie nach Hause gekommen. Hätte im Garten gespielt oder ihre Mutter so lange genervt, bis sie hätte fernsehen dürfen.
Sie legte den Hörer auf, ohne sich von Donald zu verabschieden, und wandte sich wieder an Julias Mutter. »Darf ich bitte rasch meinen Mann anrufen? Er ist mit Sue am Strand, undÉ«
»Selbstverständlich.« Julias Mutter war inzwischen ebenfalls blass bis in die Lippen. Im Hintergrund tauchten leise ihr Mann und eine erschrockene Julia auf, die trotz der Hitze einen dicken Schal um den Hals trug. »Rufen Sie an, wen immer Sie brauchen.«
Sie erreichte Robert auf seinem Handy. Im Hintergrund konnte sie das Reden und Lachen der vielen anderen Menschen am Strand hören, dazu Sues Gequengel.
»Robert, bitte, komm sofort heim. Rachel ist verschwunden.«
»Verschwunden? Was heißt das?«
»Verschwunden heißt verschwunden! Sie ist nicht da!« Trotz ihrer heftigen Bemühung, die Beherrschung zu wahren, brach Claire in Tränen aus. »Bitte komm sofort! Bitte!«

E
r sagte noch irgendetwas, aber das hörte sie schon nicht mehr. Der Hörer entglitt ihren zitternden Fingern. Julias Mutter stützte sie, half ihr in einen Sessel. Lautlos krümmte sie sich zusammen, spürte dann, wie ihr jemand - es war Julias Vater
- ein Glas mit Schnaps an die Lippen hielt. Das scharfe Brennen auf ihrer Zunge ließ ihre Lebensgeister zurückkehren. Aber sie saß wie erstarrt, hielt den Blick auf die gegenüberliegende Wand gerichtet.
Sie war zu Tode erschöpft, leer und kalt. Für den Moment vermochte sie sich nicht zu bewegen.

2
Nathan Moor tauchte am Sonntag erst um halb zwei Uhr mittags in der Küche auf. Virginia saß dort am Tisch, löffelte einen Joghurt und blätterte in einem Magazin. Sie hatte drei Stunden zuvor mit Frederic telefoniert, der von einem Dinner am Vorabend erzählt hatte und von den wichtigen Leuten, die er dort getroffen hatte.
»Und wie war dein Samstag?«, hatte er dann gefragt.
Sie hatte mit leichter Stimme geantwortet: »Ruhig. Kim ist bei einer Übernachtungsparty. Ich war endlich mal ganz allein. Ich fand das schön.«
Er hatte gelacht. »Ich kenne niemanden, der so gerne allein ist wie du!«
Es war von vorneherein klar gewesen, dass sie ihm nichts von Nathan Moors Auftauchen berichten würde. Es hätte Streit bedeutet, und Frederic hätte darauf verwiesen, dass er genau diese Entwicklung prophezeit hatte. Und wenn er gar erfahren hätte, dass Nathan sogar schon im Gästezimmer schliefÉ Virginia hatte nicht die geringste Lust auf eine Auseinandersetzung. Sie sagte sich, dass sie letztlich Frederics Nerven schonte, wenn sie schwieg. Bis er am kommenden Mittwoch zurückkäme, wäre Nathan Moor längst fort, und er brauchte nie etwas von dessen Besuch zu erfahren.
»Guten Morgen«, sagte Nathan, und sie musste lachen.
»Es ist halb zwei! Sie haben ewig geschlafen!«
»O Gott. Schon halb zwei?« Er warf einen Blick auf die Küchenuhr. »Tatsächlich. Ich glaube, das liegt an der Reise mit Li-via hierher. Die hat mich so geschwächt. Ich war todmüde.«
»Möchten Sie einen Kaffee?«
»Gern.« Er setzte sich an den Tisch und sah zu, wie sie Kaffeepulver in den Filter löffelte und die Maschine anschaltete. Am Vorabend war es genauso gewesen. Sie hatte gekocht, er hatte am Tisch gesessen und zugesehen, aber das hatte sie nicht gestört. Sie mochte es nicht so gern, wenn sich Fremde in ihrer Küche zu schaffen machten. Er hatte von seinem Schiff erzählt und dabei eine Menge Fachausdrücke verwendet, die sie nicht kannte. Als sie zu essen begannen, hatte sie nach dem gefragt, was sie wirklich interessierte.
»Sie sagten, Sie seien Schriftsteller. Was schreiben Sie denn?«
»Kriminalromane.«
»OhÉ? Wirklich? Das finde ichÉ ich lese sehr gern Kriminalromane.«

E
r hatte von seinem Teller aufgesehen. »Sie kochen sehr gut, Virginia. Ich habe lange nichts mehr gegessen, das mir so geschmeckt hat.«
»Das liegt nur daran, dass Sie halb verhungert waren. Im Moment würde Ihnen alles schmecken.«
»Nein. Das glaube ich nicht.« Abrupt wechselte er wieder das Thema. »Viele Menschen lesen gern Kriminalromane. Zum Glück für mich.«
»Dann sind Sie ein erfolgreicher Schriftsteller?«
»Das kann man so sagen. Ja.«
»Aber Sie werden nicht ins Englische übersetzt?«
»Leider nicht. Und deutsch können Sie wohl nicht lesen?«
»Nein.« Sie lachte. »Nicht ein einziges Wort.«
Sie wollte etwas fragen und überlegte noch, wie sie ihre Frage formulieren sollte, da hatte er in seiner beunruhigend hellsichtigen Art schon wieder erraten, worüber sie nachdachte.
»Sie denken, als ein erfolgreicher Schriftsteller könnte ich jetzt doch nicht so völlig pleite sein, nicht?«
Sie hatte verlegen mit den Schultern gezuckt. »Na ja, ichÉ«
»Wissen SieÉ ich bin leider nicht der Mensch, der sich großartige Gedanken um die Zukunft macht. Ich habe immer im Hier und Jetzt gelebt. Was ich verdiente, gab ich aus. Reisen, schöne Hotels, Geschenke für Livia, tolle RestaurantsÉ Das Geld kam und ging. UndÉ nun, was wir dann tatsächlich noch hatten, haben wir in den Kauf des Schiffs gesteckt, das jetzt da oben im Norden irgendwo auf dem Meeresgrund liegt. Wir hatten vor, auf dieser Reise von Gelegenheitsjobs zu leben. Für den Notfall hatten wir Schmuckstücke dabei, die wir hätten verkaufen können. Die sind natürlich auch weg.«
»Diese WeltumsegelungÉ«
»Ésollte in ein Buchprojekt münden.«
»Auch ein Kriminalroman?«
»Ja.«
»Aber Ihre Bücher sind in Deutschland doch lieferbar? DannÉ«
Er war so freundlich, ihr auch diese etwas unangenehme Frage abzunehmen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.01.2007