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Die könnten sich jederzeit an die deutsche Botschaft in London wenden«, hatte er erwidert, als Virginia ihm die verzweifelte Lage der beiden vorhielt. »Die helfen in solchen Fällen. Die organisieren auch die Rückreise und alles, was sonst zu tun ist. Es gibt überhaupt keinen Grund, weshalb die sich an uns festbeißen müssen!«
Jetzt wäre der Moment gewesen, genau dies Nathan Moor nahe zu legen. Ihn an die zuständige Stelle zu verweisen, ihm noch ein paar Pfund als Überbrückung in die Hand zu drücken und ihm dann freundlich klar zu machen, dass sich die Familie Quentin nicht länger verantwortlich fühlte.
Sie wusste später nie zu sagen, warum sie das nicht getan hatte. Manchmal überlegte sie, ob es an ihrem inneren Alleinsein gelegen hatte. Und an der Art, wie Nathan sie anschaute. Sein Blick zeigte keine Neugier. Sondern ein warmes, intensives Interesse.
»Also, so warm sind die Nächte nicht mehr, dass Sie sie auf einer Parkbank zubringen sollten«, sagte sie stattdessen in einem munteren Ton, der ihre Beklommenheit verbergen sollte. »Ich darf Ihnen unser Gästezimmer anbieten? Und jetzt werde ich ein Abendessen machen, damit Sie nicht auch noch halb verhungert im Krankenhaus landen wie Ihre Frau.«
»Ich helfe Ihnen«, sagte er und erhob sich.
Als sie, von ihm gefolgt, in die Küche trat, hatte sie noch immer das mulmige Gefühl, dass sie dabei war, sich in ein Problem zu verstricken, dessen Eigendynamik sie vielleicht irgendwann nicht mehr würde aufhalten können.
Seltsamerweise aber trauerte sie nicht mehr im Geringsten ihrem einsamen Samstagabend hinterher.

Sonntag, 27. August
1
Rachel Cunningham hatte die Entscheidung, an jedem Sonntag von halb zwölf bis halb eins in den Kindergottesdienst zu gehen, ganz allein getroffen. Niemand in ihrer Familie war besonders religiös. Ihre beste Freundin Julia, die regelmäßig mit ihren Eltern in die Kirche ging, hatte sie anderthalb Jahre zuvor überredet, einmal mitzukommen, und Rachel hatte großen Gefallen an den Geschichten gefunden, die dort erzählt wurden, und am gemeinsamen Singen und Beten. Und natürlich an Don. Sie hatte ihre Eltern bestürmt, von nun an regelmäßig dort hingehen zu dürfen, und Claire und Robert Cunningham hatten erfreut zugestimmt - der Kindergottesdienst erschien ihnen als eine gesunde Alternative zu einem gelangweilt vertrödelten Sonntagmorgen, an dem Rachel unvermeidlich irgendwann nach dem Fernseher zu quengeln begann.
Bis zum Beginn der diesjährigen Schulferien hatten entweder Claire oder Robert ihre Tochter zur Kirche gebracht, aber in diesem Sommer hatte sie durchgesetzt, allein gehen zu dürfen. Schließlich war sie schon acht Jahre alt. Claire Cunningham war über die neue Selbstständigkeit ihrer Tochter nicht allzu glücklich gewesen, aber Robert hatte ihr erklärt, dass gewisse Abnabelungsprozesse wichtig für Kinder seien und nicht unterbunden werden sollten.

A
m heutigen Sonntag war es noch einmal sehr heiß geworden, und Robert hatte gesagt, er wolle mit Rachels kleiner Schwester Sue ans Meer fahren.
»Möchtest du nicht mitkommen, Rachel? Das ist wahrscheinlich die letzte Gelegenheit in diesem Jahr, um im Meer zu baden!«
Rachel hatte jedoch nachdrücklich den Kopf geschüttelt. Claire registrierte es etwas bekümmert. Seitdem Sue auf der Welt war, weigerte sich Rachel häufig, an gemeinsamen Familienunternehmungen teilzunehmen. Vom ersten Augenblick an war sie mit ihrer kleinen Schwester nicht zurechtgekommen. Sie war eifersüchtig auf die Zuwendung, die das kleine Mädchen von den Eltern bekam, traurig darüber, etwas teilen zu müssen, was ihr bislang allein gehört hatte. Manchmal zog sie sich ganz in sich selbst zurück, manchmal versuchte sie, die Aufmerksamkeit ihrer Eltern durch schlechtes oder widerspenstiges Benehmen auf sich zu ziehen. So wie an diesem Morgen. Noch im Schlafanzug und mit bloßen Füßen war sie die Treppe heruntergekommen, obwohl Claire ihr hundert Mal gesagt hatte, sie solle Hausschuhe anziehen, bevor sie über die kalten Steinplatten in Flur und Küche lief. Natürlich gab es wieder einen Disput deswegen, und Claire hatte fast den Eindruck, als habe Rachel diesen ganz bewusst und nicht aus reiner Nachlässigkeit provoziert.

N
achdem Robert mit Sue das Haus in Richtung Strand verlassen hatte, machte sich eine wieder recht gut gelaunte Rachel auf den Weg zum Kindergottesdienst.
»Du strahlst ja so«, stellte Claire fest.
Rachel nickte. »Heute kommtÉ« Sie biss sich auf die Lippen.
»Wer kommt heute?«, fragte Claire zerstreut. In Gedanken war sie bereits bei der Arbeit, die sie erwartete, wenn die ganze Familie verschwunden war.
»Ach, so ein Pfarrer«, sagte Rachel rasch. »Ein Pfarrer aus London kommt und zeigt uns Dias über Indien!« Sie gab ihrer Mutter einen Kuss. »Bis später, Mummie!«

C
laire atmete tief durch. Manchmal genoss sie das Alleinsein zutiefst. Sie arbeitete freiberuflich als Journalistin und musste am heutigen Sonntag eine Theaterkritik über ein Stück schreiben, das sie sich am Vorabend im Auftrag der Lynn News angesehen hatte. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und war entschlossen, die in diesem Haus so selten herrschende völlige Ruhe bis zur letzten Minute auszunutzen.

S
ie kam gut voran. Das Telefon läutete kein einziges Mal, im Zimmer war es trotz der draußen rasch ansteigenden Temperatur angenehm kühl, und über der Straße und den Gärten von Gaywood, einem typischen Familienwohnviertel in KingÕs Lynn, lag sonntägliche Stille. Nur ein paar Vögel zwitscherten, ein paarmal bellte ein Hund. Es war die perfekte Arbeitsatmosphäre.
Claire hatte das Stück gut gefallen, daher machte es ihr Spaß, darüber zu schreiben. Sie wusste, dass sie etwa anderthalb Stunden hatte: Um kurz nach elf war Rachel fortgegangen, etwa um Viertel vor eins würde sie zurück sein. Nach dem Gottesdienst war sie stets sehr ausgeglichen - was an ihrer Zuneigung für den sagenhaften Don lag - und sprudelte über vor Mitteilungsbedürfnis. Claire hätte es nicht fertig gebracht, sie dann mit dem Hinweis, keine Zeit zu haben, abzuweisen. Sie würde sich alles, was Don gesagt und getan hatte, haarklein anhören müssen. Danach wollte sie mit Rachel rasch die Hauptstraße hinunter zu dem Fish-&-Chips-Stand fahren, der auch sonntags seine Ware anbot, für jeden eine große Portion kaufen und sie gemeinsam mit ihrer Tochter auf irgendeiner Parkbank verzehren. Rachel liebte es, ein Elternteil für sich allein zu haben und irgendetwas zu unternehmen, auch wenn es nur ein kurzer Mittagsausflug in den Park war. Wann immer sie konnte, versuchte Claire, etwas in dieser Art zu tun und ihrer Erstgeborenen ein wenig ausschließliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Über der Arbeit merkte sie kaum, wie die Zeit verging. Schließlich tippte sie das letzte Wort in den Computer und lehnte sich seufzend zurück. Sie musste noch einmal alles durchgehen, dann konnte sie den Text gleich in die Redaktion mailen. Erstaunlich, dass sie alles in der recht kurzen Zeit geschafft hatte.
Sie schaute auf die Uhr und stieß einen Laut des Erstaunens aus: Es war ein Uhr! Und Rachel war noch nicht daheim.
Sie trödelte für gewöhnlich nicht herum. Und wenn sie nach dem Kindergottesdienst noch etwas bei Julia blieb, was gelegentlich vorkam, rief Julias Mutter an.
Sollte man das heute vergessen haben?
Claire, auf einmal von starker Unruhe gepackt, lief ins Wohnzimmer hinunter, wo das Telefon stand, und wählte Julias Nummer. Zu ihrer Erleichterung meldete sich Julias Mutter fast sofort.
»Hallo«, sagte Claire, »hier ist Claire Cunningham. Ich wollte mich nur vergewissern, dass Rachel bei Ihnen ist. Sie soll doch bitte gleichÉ«
»Aber Rachel ist nicht hier«, unterbrach Julias Mutter.

C
laire schluckte trocken. »Nein? Und Julia?«
»Julia war heute überhaupt nicht im Kindergottesdienst. Sie klagt über Halsschmerzen.«
»Es istÉ es ist nurÉ Rachel ist noch nicht zu Hause. Es ist ein Uhr! Ob sie noch mit einem der anderen Kinder zusammen ist?«
»Es ist so schönes Wetter«, meinte Julias Mutter beruhigend, »vielleicht hat irgendeine der abholenden Mütter den Kindern ein Eis spendiert. Und die sitzen jetzt zufrieden in der Sonne und vergessen ganz, dass daheim jemand wartet.«
»Das könnte sein.« Aber sie glaubte es nicht. Rachel war sehr zuverlässig. Sie kam praktisch nie zu spät. Oder wollte sie wieder provozieren? Aber sie war so guter Dinge gewesen, als sie fortging!
»Ich werde mal zur Kirche gehen und nachsehen«, sagte sie. Sie fand, dass ihre Stimme ganz verändert klang. Sie legte den Hörer auf, ohne sich zu verabschieden. Sie hatte Angst. Furchtbare Angst. Sie konnte spüren, wie ihr Herz raste.
Sie nahm nichts mit als den Haustürschlüssel und rannte auf die Straße hinaus. Weit und breit keine Spur von Rachel.

I
m Laufschritt legte sie den Weg zur Kirche zurück. In dem angrenzenden Gemeindehaus fand immer der Kindergottesdienst statt.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.01.2007