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Zweifellos war sie nicht in dem Zustand, in dem sie vor eine Fernsehkamera hätte gezerrt werden sollen, aber offenbar hatte es in ihrer näheren Umgebung niemanden gegeben, der sich verpflichtet gefühlt hätte, ihren Auftritt zu verhindern. Der Moderator fragte sie in einer ausgesprochen indiskreten Weise aus, wobei er nur scheinbar Rücksicht auf ihren Schockzustand nahm, in Wahrheit jedoch gerade ihre daraus resultierende Hilflosigkeit nutzte, intimste Gefühle und Gedanken zu erfragen. Liz Alby gab bereitwillig Auskunft, nicht im Geringsten erkennend, wie gnadenlos sie vorgeführt wurde.
»Ist es nicht so, dass man nun jede Auseinandersetzung bereut, die man je mit seinem Kind hatte?«, fragte der Moderator. »Und wir alle haben Streit mit unseren Kindern hin und wieder, nicht? Drängen sich Ihnen nicht Bilder auf - Ihre kleine Sarah, wie sie weint, weil Mama böse ist und schimpft? Oder keine Zeit für sie hat?«
Es war deutlich zu sehen, dass diese Fragen Liz Alby wie Messerstiche trafen.
»Das kann er doch nicht machen!«, rief Virginia vor ihrem Fernseher.
»Ich muss immer an das Karussell denken«, sagte Liz leise.
Der Moderator sah sie mitfühlend und zugleich aufmunternd an. »Erzählen Sie uns davon, Liz«, bat er.
»An dem Tag, an demÉ an dem Sarah verschwand«, begann Liz stockend, »wir waren ja in Hunstanton. Am Strand.«
»Wir alle wissen das«, sagte der Moderator sanft, »und jeder der Zuschauer wird sich denken können, wie viele Male Sie es schon bereut haben, dort hingefahren zu sein.«
»Es gibt dort ein Karussell«, fuhr Liz fort, »und meineÉ meine Tochter bettelte, damit fahren zu dürfen. SieÉ weinte, als ich nein sagte.«
»Sie sagten nein, weil Sie meinten, keine Zeit zu haben? Oder weil es zu teuer war? Oder warum?«
»Das geht dich einen Scheißdreck an!«, sagte Virginia wütend.
»IchÉ ich weiß auch nicht genau«, sagte Liz, »es warÉ alles zusammen. Ich habe nicht viel Geld, aber ich hatte auch keine Lust, dort zu stehen und zu warten. IchÉ wusste, dass sie kein Ende finden würde und dass wir so oder so am Schluss Streit hätten. Es war einfachÉ« Sie hob hilflos die Arme.
»Und das tut Ihnen nun leid?«
»IchÉ kann nur daran denken. Immerzu. An das Karussell. Ich weiß, dass das nicht das Wichtigste ist, aber ständig muss ich denken, warum ich ihr nicht ein paar Runden spendiert habe. Warum ich ihr nicht nochÉ eine letzte Freude gemacht habe.« Liz senkte den Kopf und fing an zu weinen. Die Kamera fuhr gnadenlos dicht an ihr gequältes Gesicht heran.
»Das ist zum Kotzen«, schimpfte Virginia und schaltete den Fernseher ab.

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n die plötzliche Stille hinein vernahm sie ein nachdrückliches Klopfen an der Haustür.
Sie hoffte, dass es Grace oder Jack wäre, obwohl die sonst eher gleich an die Küchentür kamen. Bloß kein Besuch! Es war ihr Abend. Kurz überlegte sie, ob sie so tun sollte, als sei niemand daheim, aber dann würde sie die ganze Zeit über Angst haben, auf der Terrasse überrascht zu werden.
Seufzend stellte sie ihr Glas ab.
Es war Nathan Moor, der vor ihr stand, und sie war so überrascht, dass sie im ersten Moment kein Wort hervorbrachte. Auch Nathan war zusammengezuckt, als sich die Tür öffnete.
»Oh«, sagte er schließlich, »ich dachte schon, es sei niemand da. Ich habe schon eine ganze Weile geklopft.«
»Ich habe es nicht gehört«, sagte Virginia, als sie endlich wieder sprechen konnte. »Der Fernseher lief.«
»Ich störe wohl geradeÉ«
»Nein. Nein, ich wollteÉ ich habe sowieso gerade abgeschaltet.«
»Ich hätte anrufen sollen, aberÉ« Er ließ den Satz unvollendet, so dass Virginia nicht erfuhr, was ihn an dem Anruf gehindert hatte.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie, »aber ich bin ziemlich überrascht. Ich dachte, Sie seien noch auf Skye.«
»Das ist eine längere Geschichte«, erwiderte Nathan, und Virginia begriff endlich, dass sie ihn eigentlich hereinbitten sollte.
»Kommen Sie. Wir setzen uns auf die Terrasse. Ich habe mir gerade etwas zum Trinken gemacht. Möchten Sie auch?«
»Nur ein Wasser bitte«, sagte er und folgte ihr.

A
ls sie auf der Terrasse saßen, Virginia mit ihrem giftgrün schimmernden Curaçao und Nathan mit seinem Wasserglas, fragte sie: »Wo ist eigentlich Ihre Frau?«
»Im Krankenhaus«, sagte Nathan, »und das ist auch der Grund, weshalb wir Skye verlassen haben. In den Arzt dort hatte ich in diesem Fall nicht allzu viel Vertrauen.«
»Was hat sie?«
»Das ist schwer zu sagen. Vermutlich einen Schock wegen des Unglücks. Oder eine schwere Depression, ich weiß es nicht.
Sie hörte plötzlich auf zu sprechen. Sie aß und trank nicht mehr. SieÉ sie schien in eine eigene Welt abzugleiten, in der ich sie nicht mehr erreichen konnte. Am Mittwoch wurde mir klar, dass sie verhungern und verdursten würde, wenn ich nichts unternahm. Deshalb haben wir am Donnerstag in aller Frühe Dunvegan verlassen.«
»Wahrscheinlich hätten wir alle daran denken sollen«, sagte Virginia. »Nach allem, was geschehen ist, hätte sie sofort in psychotherapeutische Behandlung gehört.«
Er nickte. »Ich mache mir Vorwürfe. Ich habe nicht begriffen, was in ihr vorging.«
»Schon als ich sie bei Mrs. OÕBrian besuchte, kam sie mir wie eine Schlafwandlerin vor«, sagte Virginia. »Ich fand das nicht ungewöhnlich nachÉ dieser schrecklichen Geschichte. Man hätte es ernster nehmen sollen. Und jetzt ist sie hier in KingÕs Lynn im Krankenhaus?«

I
hre innere Stimme fragte, weshalb er nicht mit seiner Frau nach Deutschland zurückgekehrt war, aber mit dieser Stimme mochte sie jetzt nicht diskutieren. Sie dachte, wie gut es doch war, dass Frederic diesen Moment nicht miterlebte.
»Seit Freitag früh, ja. Sie wird dort erst einmal etwas aufgepäppelt. Vor allem der Flüssigkeitsverlust hat sie sehr geschwächt. Sie ernähren sie künstlich, weil sie nach wie vor alles verweigert.«
»Wie entsetzlich. Ich werde sie gleich morgen besuchen.«
»Sie reagiert auf nichts und niemanden. Aber ich fände es trotzdem schön, wenn Sie hingingen. Wer weiß, vielleicht gibt ihr das einen Schub nach vorn. Sie mag Sie sehr, Virginia. Sie hat immer mit größter Sympathie von Ihnen gesprochen.«
Sie musste die Frage stellen: »WieÉ haben Sie uns gefunden? Und weshalbÉ«

E
r erriet, was sie hatte fragen wollen. »Weshalb wir hierher gekommen sind? Virginia, ich hoffe, Sie fangen nicht an, sich von uns verfolgt zu fühlen. Die schlichte Wahrheit ist, dass für eine Reise nach Deutschland das Geld nicht gereicht hätte. Sie waren ja so nett, uns etwas zu leihenÉ«
Frederic hatte die Stirn gerunzelt, jedoch nichts mehr dazu gesagt.
»Éund ich konnte damit gerade noch die Bahnfahrt bis hierher bezahlen. Es war eine schreckliche Reise mit dieser schwachen, vollkommen willenlosen FrauÉ Ein netter Tourist hat uns mit dem Auto bis Fort William mitgenommen, aber von da an waren wir auf uns allein gestellt. Wir mussten in Glasgow umsteigen und dabei auch noch von einem Bahnhof zum anderen gelangen, dann ging es weiter nach Stevenage, einem Ort, von dem ich im Leben vorher noch nichts gehört hatte. Dort haben wir die halbe Nacht auf den Anschluss nach KingÕs Lynn gewartet. Freitag früh kamen wir hier an. Ich habe die letzte Nacht in einer wirklich schaurigen Unterkunft nahe dem Krankenhaus geschlafen, aber damit waren meine finanziellen Reserven endgültig aufgebraucht. Ich habe nichts mehr. Absolut nichts mehr.«
»WieÉ?«
»Richtig. In einer der Schubladen dort in Ihrem Ferienhaus lag ein an Sie gerichtetes Schreiben, auf dem diese Adresse hier stand. Sie haben den Umschlag wohl irgendwann einmal mitgenommen. Und da dachte ichÉ«
Sie merkte, dass sie leises Kopfweh bekam. Was vor allem mit Frederic zusammenhing.
Wie sie schon auf Skye bemerkt hatte, verfügte Nathan über eine feine Intuition.
»Ihr Mann wird nicht begeistert sein, mich hier anzutreffen, nicht wahr?«, fragte er.
»Er ist in London. Aber er kommt nächste Woche zurück.«
»Er mag uns nicht«, sagte Nathan, »er misstraut uns. Und das kann ich ihm auch nicht verdenken. Er muss glauben, wir sind eine richtige Landplage. Jetzt kreuzen wir auch hier noch aufÉ Virginia, das Schlimme ist, ich habe keine Wahl. Sonst wäre ich nie auf die Idee gekommen, Sie zu belästigen. Aber ichÉ wir stehen vor dem Nichts. Buchstäblich. Ich habe keinen einzigen Cent mehr in meiner Tasche. Dieses Wasser hier«, er deutete auf das Glas, das vor ihm stand, »ist das Erste, was ich heute zu mir nehme. Die Nacht werde ich vermutlich auf einer Parkbank zubringen müssen. Keine Ahnung, was werden soll. Und Sie sind der einzige Mensch, den ich in diesem Land kenne.«

I
hr fiel etwas ein, das Frederic gesagt hatte, als sie auf der Rückfahrt von Skye waren und es noch einmal zu einer Diskussion wegen der beiden Deutschen gekommen war.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 18.01.2007