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Schuldbewusst dachte Virginia, wie wenig sie sich in der letzten Zeit um die Familie gekümmert hatte. Dass sich bei den Clarks nebenan eine Tragödie abspielte, war ihr vollkommen entgangen. Aber ihren Eltern vielleicht auch, jedenfalls hatte niemand etwas gesagt.
»Ach, Michael«, sagte sie hilflos und fühlte zum ersten Mal in ihrem Leben eine Scheu, ihn an sich zu ziehen und in den Armen zu halten, »es tut mir so leid. Ehrlich. Gar keine Chance, dass dein Vater es sich noch anders überlegt?«
»Ich glaube nicht. Er wohnt ja schon jetzt mehr bei ihr als bei uns. Und er hat offenbar drüben in Amerika auch schon beruflich Dinge für sich in die Wege geleitet. Er will wohl nur noch weg.«
Virginia fragte sich, wie man einen so lieben Jungen wie Michael und eine so nette Frau wie seine Mutter einfach verlassen konnte, aber offenbar gab es andere Kriterien, die das Verhalten mancher Männer bestimmten. Sie war böse auf ihren Onkel, weil er Michael so traurig machte. Aber dann überlegte sie, dass ihr Onkel vielleicht die gleichen Gründe hatte, die sie bewogen hatten, ihre Verlobung mit Michael stillschweigend zu lösen: das Fehlen jeglicher Erotik in der bestehenden Beziehung. So oberflächlich es sein mochte, sie wusste inzwischen, wie stark die Kraft der Sexualität war und von welch heftiger Sehnsucht ihr Nichtvorhandensein begleitet wurde. Vielleicht gab ihm die Amerikanerin in dieser Hinsicht etwas, das sich aus seiner Ehe längst hinausgeschlichen hatte.

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ie litt ein wenig mit Michael, der durch ein elendes, quälendes Frühjahr ging, in dem er im Wesentlichen versuchen musste, seine weinende, völlig verzweifelte Mutter zu trösten. Aber sie litt nicht zu sehr, denn ihr eigenes Leben ging weiter, randvoll mit Erlebnissen und Ereignissen. Anfang März, einen Monat nach ihrem fünfzehnten Geburtstag, schlief sie zum ersten Mal mit einem Jungen. Er war schon neunzehn, der gut aussehende, etwas blasierte Sohn einer sehr reichen Londoner Familie. Sie hatte ihn in einer Diskothek kennengelernt und behauptet, schon siebzehn zu sein, was er ihr offenbar ohne jedes Misstrauen abgekauft hatte. Nicholas besaß ein eigenes Auto, dessen Liegesitze sie als Unterlage für ihren Geschlechtsakt verwenden konnten. Virginia fand Nicholas rasend attraktiv, aber nicht sonderlich sympathisch, und schon gar nicht liebte sie ihn auch nur im Allerentferntesten so sehr wie Michael, aber sie machte die Feststellung, dass, im Gegensatz zu dem, was ihre Mutter ihr immer einzureden versuchte, Liebe und Erotik nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben mussten. Was diesen jungen Mann betraf, so zeigte ihr Körper all die Symptome von Leidenschaft und Begehren, von denen sie immer gelesen und gehört hatte. Sie fand es wunderbar, mit ihm zu schlafen. Sie fand es himmlisch, ihn zu küssen. Sich langsam und verschmelzend mit ihm auf schwach beleuchteten Tanzflächen zu wiegen. Eng umschlungen mit ihm durch die Stadt zu bummeln.

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n der ersten Zeit konnte sie davon gar nicht genug bekommen. Sie gingen eineinhalb Jahre miteinander, abgesehen von einer vier Wochen währenden Krise, als Nicholas herausfand, dass ihn Virginia wegen ihres Alters belogen hatte. Er schmollte eine Weile, war jedoch selbst viel zu verrückt nach dem schönen, blonden Mädchen, um wirklich eine Trennung herbeiführen zu können. Sie erlebten aufregende Dinge zusammen, denn Nicholas hatte immer so viel Geld zur Verfügung, wie er nur wollte. Sie besuchten die angesagtesten Nobeldiskotheken, für die Virginias Taschengeld nie gereicht hätte, sie gingen in schicken Restaurants zum Essen, schauten sich Tennis in Wimbledon an und Pferderennen in Ascot. Es war ein neues Leben, eine neue Welt für Virginia, und sie genoss es in vollen Zügen.

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nterdessen zog Michaels Vater endgültig daheim aus, und schließlich ging auch die Scheidung über die Bühne, gegen die sich zu wehren Michaels mittlerweile schwer depressive Mutter nicht mehr die Kraft fand. Zu dem Zeitpunkt, als sich die inzwischen sechzehnjährige Virginia gerade von Nicholas trennte - Geld und Glamour hatten ihren Reiz verloren, und echte Gefühle hatte es zwischen ihnen beiden nie gegeben -, war Michaels Mutter seelisch so schwer erkrankt, dass Michael immer mehr zu einer Art Krankenpfleger für sie wurde. Anstatt endlich sein eigenes Leben führen zu können - oder zumindest herausfinden zu können, worin sein eigenes Leben eigentlich bestand -, begleitete er seine Mutter zu ihren Therapien und saß daheim ganze Wochenenden lang geduldig neben ihr und hörte sich wieder und wieder die Geschichte ihrer Ehe und der Trennung an. Als sie nach zwei Jahren an einem mysteriösen Herzversagen starb, dessen Ursache auf eine Überdosis an Medikamenten zurückzuführen war, von der sich nie klären ließ, ob sie sie absichtlich eingenommen hatte, wusste der knapp achtzehnjährige Michael über lange Zeit nicht, womit er die plötzliche Leere in seinem Alltag füllen sollte. Es war die Zeit, in der seine eigenen Depressionen geboren wurden.

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er einzige Mensch, der ihm blieb, war Virginia, die Gefährtin seiner Kinderjahre. Diese hatte sich gerade mit einem zwanzig Jahre älteren, sehr reichen Kanadier verlobt und war mit ihm nach Vancouver gegangen, flüchtete jedoch ein Jahr später kurz vor der geplanten Hochzeit vor seinen Gewalttätigkeiten zurück nach England. Es ging ihr nach dieser Erfahrung psychisch ebenfalls nicht gut. Auch sie suchte nach einem Halt, und es war fast unausweichlich, dass sie und Michael nun mit ausgestreckten Armen aufeinander zugingen. Angeschlagen und frustriert, wie sie waren, telefonierten sie häufig miteinander, sahen sich beinahe jeden Tag, entdeckten die alten Gefühle füreinander wieder und fanden in die Vertrautheit zurück, die sich in langen Jahren zwischen ihnen aufgebaut hatte. Als sich Virginia in Cambridge für ein Studium der Literaturwissenschaften einschrieb, war es sofort klar, dass auch Michael dort hinkommen würde. Er wollte Geschichte studieren und später eine Professur anstreben.
Sie hausten in einer winzigen Wohnung, die eigentlich nur aus einem einzigen Zimmer und einer Kochnische bestand, hatten viele Freunde und führten ein geselliges Leben. In Virginias Schlepptau verlor auch Michael etwas von seinem Hang zum Eigenbrötlertum, wurde offener und fröhlicher. Virginia gewann sehr schnell ihre alte Lebhaftigkeit und Leichtigkeit zurück, obwohl sie zugleich versuchte, im Hinblick auf ihre Studien ein ernsthafteres Leben zu führen.

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ie veränderte sich auch äußerlich: Die schicken Kostümchen und Stöckelschuhe, die sie in Vancouver getragen hatte, verschwanden in der Versenkung, stattdessen begann sie sich für ausgefranste Jeans, schwarze Pullover, Silberschmuck und ein düsteres Make-up zu begeistern. Sie rauchte ziemlich viel und nahm an literarischen Zirkeln teil, las endlich die Bücher, die sie während ihrer Pubertät zugunsten anrüchiger Liebesgeschichten übersehen hatte.
Sie feierte und trank ein wenig zu viel und schlief zu wenig, und gelegentlich flirtete sie auf Partys mit anderen Männern, was zu heftigen Auseinandersetzungen mit Michael führte. Soweit Michael überhaupt in der Lage war zu streiten. Er jammerte und klagte, und Virginia wurde aggressiv. Denn letztendlich war sie ihm treu. Sie fand es langweilig, mit ihm zu schlafen, aber sie probierte niemand anderen aus. Sie fühlte sich bei ihm geborgen, und über eine gewisse Zeit mochte sie diese Geborgenheit auch nicht zugunsten irgendeines schnellen Verhältnisses aufgeben.

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nd dann traf sie Andrew Stewart, und genau wie in jenem Sommer viele Jahre zuvor, als ihre wunderbare Kindheit mit Michael plötzlich geendet hatte, veränderte sich auch diesmal ihr Leben wieder völlig.
Sie war ihrer großen Liebe begegnet.


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Es war so dunkel im Zimmer geworden, dass sie einander nur noch schattenhaft erkennen konnten. Draußen vor den Fenstern rauschte der Regen. Der angekündigte Wetterumschwung war eingetreten. Der Sommer hatte seinen Abschied genommen.
Nachdem sie sich wieder und wieder übergeben hatte, hatte sie eine ganze Weile warten müssen, ehe sie sich wieder bewegen konnte, dann war sie ins Bad gegangen, hatte sich das Gesicht gewaschen und sich minutenlang die Zähne geschrubbt, um den widerlichen Geschmack von Erbrochenem in ihrem Mund zu beseitigen. Noch immer war ihr das bleiche Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen darin wie das einer Fremden erschienen.
Was geschieht mit mir? Es war doch alles in Ordnung!
Aber eigentlich war nichts in Ordnung gewesen, das wusste sie, doch was immer in ihr an Unbewältigtem geschlummert hatte, sie hatte es unter Kontrolle gehabt. Irgendwie war es ihr seit Jahren gelungen, nicht mehr an Michael zu denken. Überhaupt an etwas zu denken, was vor ihrer Zeit mit Frederic Quentin lag. Seitdem jedoch die beiden Deutschen aufgekreuzt waren, besonders NathanÉ
Sie hätte auf Frederic hören und die Finger von den beiden lassen sollen. Frederic hatte keine Ahnung von der Lawine gehabt, die losgetreten werden könnte, aber ein Instinkt musste ihn gewarnt haben.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.01.2007