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Oft fuhr Frederic auch mit dem Wagen nach London, aber heute wollte er noch etliche Akten durcharbeiten.
»Vielleicht denkst du ein bisschen darüber nach«, bat er, »in Ruhe, mir zuliebe. Und ich möchte, dass du weißtÉ« Er zögerte kurz. Er war nicht sehr geübt darin, Gefühle zum Ausdruck zu bringen. »Du sollst wissen, dass ich dich liebe. Immer. Ganz gleich, wie du am Ende auf meine Bitte reagieren wirst.«
Sie nickte. Aber er erkannte Verärgerung in ihren Augen. Durch seinen letzten Satz fühlte sie sich noch stärker unter Druck gesetzt.
Egal, dachte er, ich habe gesagt, was ich denke.
Draußen konnte er einen Wagen heranfahren hören. Jack kam, ihn abzuholen. Es wurde höchste Zeit, dass er sein Jackett anzog, seine Akten nahm und den Weg nach London antrat.
Er überlegte, auf Virginia zuzutreten und ihr einen Kuss zu geben, was er sonst immer tat, wenn er sich von ihr verabschiedete, aber irgendetwas hielt ihn diesmal zurück. Wahrscheinlich der Ausdruck, der noch immer in ihren Augen stand.
»Bis bald«, sagte er.
»Bis bald«, erwiderte sie.


Samstag, 26. August
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m Wochenende kehrte der Sommer noch einmal nach East Anglia zurück. Zwar konnten die Morgen und Abende den nahenden Herbst nicht verleugnen, aber tagsüber wurde es so heiß, dass die Menschen ans Meer und in die Schwimmbäder strömten. Der Himmel war von einem überirdischen Blau. Die Blumen in den Gärten leuchteten in allen Farben. Es war wie ein letztes, wunderbares Abschiedsgeschenk. Für die folgende Woche kündigten die Meteorologen Regen und Kälte an.
Virginia fuhr Kim am späten Samstagnachmittag zu einer Schulfreundin, die ihren Geburtstag mit einer Übernachtungsparty feierte. Sie hatte fast die ganze Klasse eingeladen, mit der Auflage, einen Schlafsack mitzubringen. Erst am Sonntag sollte alles mittags mit einem großen Pizzaessen enden.
Die Mütter, die gerade ihre Kinder ablieferten, sprachen über das Verbrechen an der kleinen Sarah Alby, das die ganze Gegend erschüttert hatte. Eine der Frauen kannte jemanden, der Sarahs Mutter kannte, »flüchtig«, wie sie betonte.
»Ziemlich asoziale Menschen«, berichtete sie, »der Vater ein arbeitsloser Herumtreiber, der sich überhaupt nicht um sein Kind gekümmert hat. Die Mutter sehr jung und vergnügungssüchtig und ebenfalls nicht an der Kleinen interessiert. Und dann soll es noch eine Großmutter geben, die wohl den Vogel abschießt. Völlig verkommen.«
»Entsetzlich«, sagte eine andere Frau, »und ich habe ja auch gehört, dass die Mutter ihr Kind ziemlich lange am Strand allein gelassen hat. Sie versuchte, an irgendeiner Imbissbude Männerbekanntschaften zu schließen. Wenn ich mir das vorstelleÉ ein vierjähriges Kind!«

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lle waren sich einig in ihrer Entrüstung. Virginia, die sich wie immer in solchen Situationen sehr zurückhielt, konnte es zwar ebenfalls nicht nachvollziehen, dass man sein Kind unbeaufsichtigt am Strand ließ, aber irgendwie stieß sie die Selbstgerechtigkeit der anderen ab. Sie alle waren Angehörige der besseren Gesellschaftsschicht, ordentlich verheiratet oder zumindest ordentlich geschieden, in jedem Fall vom Vater ihrer Kinder unterstützt und unterhalten. Ihre Schwangerschaften waren ihnen nicht zugestoßen wie eine schreckliche Krankheit, sondern waren gewollt gewesen. Vielleicht hatte Sarah Albys junge Mutter mit Problemen, Ängsten und zerstörten Hoffnungen zu kämpfen gehabt, die sich diese Frauen nicht einmal im Traum vorstellen konnten.
»Ach, Mrs. Quentin«, sagte nun eine von ihnen, als würde sie sich eben erst Virginias Anwesenheit bewusst, »ich habe ein Interview mit Ihrem Mann in der Times gelesen. Er strebt einen Sitz im Unterhaus an?«
Alle wandten sich Virginia zu. Sie hasste es, angestarrt zu werden.
»Ja«, sagte sie nur.
»Das wird ja dann auch für Sie eine anstrengende Zeit«, meinte eine andere, »so etwas involviert ja doch immer die ganze Familie.«
Virginia kam sich vor wie ein in die Enge getriebenes Tier.
»Ich lasse das auf mich zukommen«, entgegnete sie.
»Ich bin froh, dass mein Mann keinerlei Ambitionen in dieser Richtung hegt«, sagte eine der Mütter, »mir ist mein ruhiges Familienleben heilig.«
»Ihr Mann ist auch nicht Besitzer einer Privatbank. Und hat keinen Landsitz!«
»Das hat doch damit nichts zu tun!«
»Aber, meine Liebe, natürlich hat es das! Je höher das politische Amt, das jemand anstrebt, desto wichtiger sind Geld und gute Beziehungen.«
»Sind Geld und gute Beziehungen nicht immer wichtig? Ich finde, dassÉ«
Virginia hatte das Gefühl, das allgemeine Stimmengewirr schlage über ihr zusammen und ersticke sie. Sie fand es plötzlich schwierig, Luft zu holen. Wie so häufig empfand sie die Menschen um sich herum als zu dicht an sie herangerückt.
»Ich muss gehen«, sagte sie hastig, »ich habe noch Gäste heute Abend und eine Menge vorzubereiten.«
Sie verabschiedete sich von Kim, die aber schon so intensiv mit den anderen Kindern beschäftigt war, dass sie ihrer Mutter nur noch flüchtig zuwinkte. Während Virginia den Garten verließ, hatte sie das sichere Gefühl, dass alle hinter ihr herblickten und dass man, kaum dass sie außer Hörweite war, über sie zu tuscheln begann. Ihr Aufbruch war fast panisch gewesen, das hatten die anderen spüren können. Sie hatte nicht wie eine Frau gewirkt, die es eilig hat, sondern wie eine, die eine Panikattacke nahen sieht.
Mist, dachte sie draußen, als sie ihr Auto erreicht hatte und sich für eine Sekunde gegen das heiße Blechdach lehnte, warum kann ich es nur so schlecht verbergen?
Während sie losfuhr, überlegte sie, was genau sie eigentlich mit es meinte. Was konnte sie nur so schlecht verbergen?
Es trat jedenfalls nur in der Gesellschaft anderer Menschen auf, speziell in Situationen, in denen sie plötzlich Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit war und in denen Fragen, die man ihr stellte, Kommentare, die man zu ihr oder ihrer Situation abgab, auf einmal eine gewisse Eindringlichkeit und Intensität annahmen. Dann gelang es ihr nicht, von sich aus einen inneren Abstand herzustellen. Dann wurde ihre Atmung hektisch, und ihr Hals schien sich zu verengen. Dann konnte sie nur noch an Flucht denken, an nichts anderes.
Fantastisch, dachte sie, als Begleiterin für die politische Karriere eines Mannes eigne ich mich wirklich hervorragend. Panikattacken sind genau das, was man dabei am besten brauchen kann.

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ls sie in das Tor zu Ferndale House einbog, konnte sie leichter atmen. Es war wieder ihre eigene Welt, in die sie zurückkehrte, das abgeschiedene Haus, der weitläufige Park, weit und breit kein Mensch als das Verwalterehepaar, das aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung eine ausreichende Distanz hielt. Wenn sie hier war, zusammen mit Kim, spürte sie so wenig von irgendeiner Panik, dass sie das Problem völlig vergessen konnte. Dann war sie jung und lebendig, eine Frau, die schon am frühen Morgen wach und fit war und durch den Wald joggte, die ihr Kind versorgte und ihr Haus in Ordnung hielt und muntere, fröhliche Gespräche mit ihrem häufig abwesenden Mann über das Telefon führte. Dann war alles in Ordnung.
Sie durfte nur nicht darüber nachdenken, ob es das Leben war, das eine sechsunddreißigjährige Frau führen sollte.
Und das wollte sie nun auch ganz sicher nicht: über ihr Leben nachdenken.
Sie hielt vor dem Haus, stieg aus und genoss nach dem kalten Luftstrom der Klimaanlage die weiche Wärme des Spätsommerabends. Sie würde es sich gemütlich machen, noch ein wenig die samtige Luft genießen. Es war kurz nach sechs, nicht zu früh für einen Drink. Sie beschloss, sich irgendetwas zu mixen, etwas Farbenfrohes, Süßes mit viel Eis, und sich dann auf die Terrasse hinter der Küche zu setzen, eine Zeitung zu lesen und den Tag ausklingen zu lassen. So abgöttisch sie Kim liebte, es war mitunter auch ganz schön ohne ihr ständiges Geplappere und ohne die vielen Fragen, die sie immerzu stellte. Es war ein Abend, der ihr ganz allein gehörte. Es mochte Menschen geben, die ihn als einsam empfunden hätten, aber dazu gehörte sie nicht.
Sie empfand einfach nur Frieden.

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ls sie in der Küche stand und etwas Blue Curaçao mit Zitronensaft in einem Glas mischte, schaltete sie gewohnheitsmäßig den kleinen Fernseher an, der auf der Anrichte stand. Es lief eine Sendung über Eltern, die ein Kind verloren hatten, und Virginia wollte schon weiterschalten, um sich nicht ein so trauriges Thema anhören zu müssen, da vernahm sie den Namen Sarah Alby und hielt inne. Es war der Name, der seit Tagen durch die Presse geisterte, der Name des ermordeten vierjährigen Kindes.

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ie sich herausstellte, war Liz Alby, Sarahs Mutter, Gast in der Sendung. Virginia sah eine sehr junge Frau, fast ein junges Mädchen noch, sehr attraktiv, sehr verstört. Zugleich vermittelte sie den Anschein, als begreife sie noch gar nicht genau, was eigentlich geschehen war. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 17.01.2007