16.01.2007 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Am Morgen des 24. August machte sich Frederic für eine Reise nach London fertig. Es war ein Donnerstag, was als Aufbruchstermin ungewöhnlich war, aber er hatte an zwei wichtigen Einladungen am Wochenende und am darauffolgenden Montag, auf den in diesem Jahr der Summer Bank Holiday, ein Feiertag, fiel, teilzunehmen.
Virginia fühlte sich ausgeruht und gut gelaunt. Sie freute sich auf den September, der nun bald beginnen würde und sein Nahen bereits unübersehbar ankündigte. Sie mochte die Zeit, wenn der Sommer langsam Abschied nahm und man schon wieder an Herbstfeuer, an lange Spaziergänge über neblige Felder, an rote Beeren und bunte Blätter dachte, und an lange Abende am brennenden Kamin, wenn draußen der Sturm um das Haus heulte.
Der Herbst war ihre liebste Jahreszeit.

K
im schlief noch. Virginia war bereits ihre übliche Strecke gelaufen und hatte sich besonders beeilt, um anschließend mit Frederic zum Abschied in Ruhe frühstücken zu können. Sie hatte ihm einen großen Teller gebratenen Speck und Eier hingestellt, dazu eine Tasse mit starkem Kaffee. Es war ein Frühstück, wie er es mochte, und es machte ihr Freude, etwas zu tun, was ihn glücklich stimmte. Sie aßen in der Küche. Vor dem Fenster lag irgendwo jenseits der hohen Bäume goldfarbener Morgensonnenschein, aber draußen hatte Virginia fröstelnd festgestellt, wie kühl es am Morgen bereits war.
Der Herbst hat schon begonnen, dachte sie.
In der Küche war es warm. Frederic las die Zeitung, Virginia rührte in ihrer Kaffeetasse. Wie nahezu immer herrschte eine friedliche, freundliche Stimmung zwischen ihnen. Es kam kaum je vor, dass sie stritten. Seit sie einander kannten, war ihre heftigste Auseinandersetzung im Grunde die vom vergangenen Wochenende gewesen, als Virginia die Schiffbrüchigen ins Haus geholt hatte. Und selbst das, dachte Virginia nun, kann man fast nicht als Streit bezeichnen.
Sie überlegte gerade, ob man mit Frederic überhaupt streiten konnte - ob es jemanden gab, der das konnte -, da unterbrach er die Stille.
»Schrecklich«, sagte er, »hier steht, dass ein kleines Mädchen aus KingÕs Lynn umgebracht worden ist.«
Virginia schrak aus ihren Gedanken auf.
»Ein kleines Mädchen? Von wem? Von ihren Eltern?«
»Nein, von einem Unbekannten. Sie wurde offenbar am Strand von Hunstanton entführt, als ihre Mutter nicht aufpasste.«
»Wann ist das passiert?«
»Als wir noch auf Skye waren. Die Kleine war vier Jahre alt.«
»Wie furchtbar! Sagt dir der Name der Leute etwas?«
Frederic schüttelte den Kopf. »Sarah Alby hieß das Kind.«
Virginia überlegte. »Nein. Den Namen Alby kenne ich nicht.«
»Sie ist vor über zwei Wochen in Hunstanton verschwunden. Jetzt, am Dienstag, haben sie sie in der Nähe von Castle Rising gefunden. Sexuell missbraucht und ermordet.«

D
as war unfassbar. Sie starrte ihren Mann an. »Sexuell missbraucht? Ein vierjähriges Kind?«
»Wer so veranlagt ist, vergeht sich sogar an Babys«, sagte Frederic. »Scheußliche Typen.«
»Weiß man, wer es war?«
»Nein. Laut Zeitungsbericht gibt es nicht einmal eine brauchbare Spur.«
»Ich werde Kim sagen, dass sie nur noch in Sichtweite des Hauses spielen darf«, sagte Virginia. »Jedenfalls so lange, bis sie den Kerl geschnappt haben.«
»Mach dir nicht zu viele Sorgen. Ich glaube nicht, dass so jemand in ein fremdes Grundstück eindringt. Der hat sich die Kleine an einem überaus belebten Badestrand geschnappt. Offensichtlich streift er nicht durch die Wälder, sondern hält inmitten von Menschenmengen Ausschau nach Opfern.«
Virginia fröstelte. »Er hält Ausschau nach OpfernÉ Das klingt, als glaubtest du, er tut es wieder?«
Er legte die Zeitung zur Seite. »Glaubst du das nicht? Wenn du sagst, du wirst nun verstärkt auf Kim aufpassen?«
Er hatte Recht. Sie glaubte es auch. Weil es sich offenbar um einen Triebtäter handelte. Und weil man von Triebtätern wusste, dass ihre Perversion immer neue Nahrung brauchte.
»Ich hoffe, sie kriegen ihn bald«, sagte sie inbrünstig, »und sperren ihn dann lebenslang weg.«
»Heutzutage wird leider kaum noch jemand lebenslang weggesperrt«, meinte Frederic, »irgendeinen verständnisvollen Psychologen, der ihm nach ein paar Jahren vollständige Heilung bescheinigt, findet so einer immer.«
Er wollte aufstehen, überlegte es sich jedoch anders. »Es gibt da noch etwasÉ«, sagte er.
Virginia, in Gedanken noch ganz bei dem furchtbaren Verbrechen, schreckte hoch. »Ja?«
»IchÉ«, es bereitete ihm Schwierigkeiten, sein Anliegen zu formulieren, »du weißt, dass ich einen Sitz im Unterhaus anstrebe und dass ich gute Chancen habe. Es macht jedoch keinen besonders positiven Eindruck, dass ich immer und überall allein auftrete. Man weiß, dass ich verheiratet bin, und man
fragt sich, weshalb man meine Frau nie zu Gesicht bekommt.«
»AberÉ«
»Das führt rasch zu Spekulationen über den Zustand unserer Ehe. Man glaubt, dass vielleicht irgendetwas zwischen uns nicht in Ordnung ist.«
»Wir haben ein siebenjähriges Kind!«
»Aber wir sind nicht gerade unvermögend. Jedem ist klar, dass wir uns eine Nanny, ein Au-pair-Mädchen oder zumindest an einigen Abenden der Woche einen Babysitter leisten könnten. Verstehst du, man würde es für eine Ausrede halten, wenn ich sage, du musst wegen des Kindes daheim bleiben.« Er überlegte kurz und fügte dann hinzu: »Man hält es bereits für eine Ausrede.«
»Ach ja? Das weißt du?«
»Es wurde mir zugetragen, ja.«

S
ie sah ihn nicht an. »Man hat dir von Seiten deiner Partei angedeutet, dass man deine Chancen schwinden sieht, wenn über dich das Gerücht entsteht, deine Ehe sei nicht in Ordnung?«
»Das ist bei den Konservativen nun einmal so.« Er stand nun doch auf, er hatte sich erregt, was er unbedingt hatte vermeiden wollen. »Verstehst du, ein Sitz im UnterhausÉ das ist nicht irgendetwas. Man bekommt den nicht gerade nachgeworfen.«
»Eine intakte Traumfamilie zu haben ist also die Voraussetzung? Das wusste ich noch gar nicht.«
Er empfand ihren Spott als völlig unangebracht und verstand auch nicht die plötzliche Aggression, die von ihr ausging. »Virginia, wo liegt das Problem? Schließlich sind wir nun einmal eine intakte Familie. Wir beide führen eine harmonische Ehe. Du bist eine attraktive, intelligente Frau. Warum darf ich dich nicht vorzeigen?«

S
ie stand ebenfalls auf. Sie hatte plötzlich keine Lust mehr auf ihren Kaffee. »Müssen wir das jetzt besprechen? Zehn Minuten bevor du das Haus für fast eine Woche verlässt? Ich finde, der Zeitpunkt ist einfachÉ Ich fühle mich überrumpelt. Ich kann nicht in Ruhe nachdenken und nicht in Ruhe mit dir reden!«
Er seufzte. Während der Ferien auf Skye hatte er einige Male gedacht, dass es am besten wäre, die Ruhe und die Zeit der friedlich dahinplätschernden Tage zu nutzen und dieses Grundsatzgespräch zu führen. Zweifellos wäre das besser gewesen, als das Thema zwischen Tür und Angel anzuschneiden, und unglücklicherweise gab es zwischen ihnen praktisch nur noch Tür-und-Angel-Gespräche. Aber immer hatte er es vor sich hergeschoben, nie den Frieden des Tages gefährden wollen, immer von der Ahnung begleitet, dass sich dieses Thema nicht ohne Komplikationen würde abhandeln lassen.
Wieso eigentlich, fragte er sich nun, wenn ich nur verstehen könnte, weshalb wir damit solche Schwierigkeiten haben!
»Das ist genau der Punkt«, sagte er, »wir können nicht in Ruhe reden. Wir sind viel zu viel voneinander getrennt. Das ist auf die Dauer nicht gut für uns.«
»Dass wir so viel voneinander getrennt sind, liegt nicht an mir!«
»Aber auch nicht allein an mir. Du wusstest von Anfang an, dass die Bank mich immer wieder nach London zwingt. Trotzdem wolltest du, dass wir unseren Hauptwohnsitz hier auf dem Land haben. Ich habe dir damals erklärt, dass dies einige Unruhe in unser Leben bringen würde.«
»Wirklich unruhig ist es deshalb, weil du dich der Politik verschrieben hast.«
Da hatte sie Recht, das wusste er.
»Ich kann nun einmal nicht anders«, sagte er hilflos.
Sie kippte ihren Kaffee in die Spüle. »Ich habe dir nie einen Vorwurf gemacht. Ich habe dich nie zu bremsen versucht.«
»Dafür war ich dir immer dankbar. AberÉ ich brauche mehr. Ich brauche deine Unterstützung. Ich brauche dich.«

E
r konnte geradezu spüren, dass sie am liebsten durch die Wand entwichen wäre. Sie wollte dieses Gespräch nicht. Sie wollte nicht, dass er bettelte. Von wegen in Ruhe reden. Alles, nur nicht über dieses Thema sprechen, zu keinem Zeitpunkt.
»Ich muss los«, sagte er. »Jack kann jeden Moment hier sein.«
Jack würde ihn zur Bahnstation in KingÕs Lynn bringen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 16.01.2007