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Aber der Wind hatte den kleinen Sandhügel abgetragen. Liz hätte nicht einmal mehr zu sagen gewusst, an welcher Stelle sie und Sarah gelegen hatten. Sie stand da, starrte über den Strand, schauderte im Wind und betrachtete fast teilnahmslos das Meer, das an diesem Tag so grau und düster war wie der Himmel darüber.
Als sie nach Hause kam, sah sie bereits von weitem, dass ein Polizeiauto gleich vor der Haustür ihres Wohnblocks parkte. Sie rannte die letzten Meter, von Hoffnung ergriffen. Vielleicht hatten sie sie gebracht. Vielleicht saß sie schon oben in der Wohnung und schob sich gerade ein paar Schokoladenkekse in den Mund oder knuddelte ihre Barbiepuppe.
Sie jagte die Treppen hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Sie registrierte, dass Türen spaltbreit geöffnet wurden, dass man hinter ihr herschaute. Das Polizeiauto hatten die anderen Hausbewohner auch bemerkt. Man brannte auf Neuigkeiten.
Sie brauchte zwei Anläufe, ehe sie den Schlüssel ins Türschloss gesteckt hatte, so sehr zitterten ihre Finger. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter - vor der Geräuschkulisse des Fernsehapparats natürlich: »Ich glaube, da kommt sie jetzt.«
Es waren zwei Polizeibeamte, die aus dem Wohnzimmer zu ihr in den winzigen Flur traten; es kam fast zu einem Gedränge, und ihr wurde auf einmal ganz eng um den Hals. Irgendetwas schnürte ihr die Kehle zu, vielleicht lag es daran, dass es sich bei den beiden Beamten um äußerst hoch gewachsene Männer handelte, die sich wie Berge vor ihr auftürmten. Doch das war es nicht allein: Ihre Mienen gefielen ihr nicht. Dieser AusdruckÉ sie hätte es nicht zu erklären vermocht, aber er machte ihr Angst. Ja, das war es, weshalb sie auf einmal meinte, nicht mehr atmen zu können: Sie hatte plötzlich schreckliche Angst.
»Miss Alby«, sagte einer der Männer und räusperte sich dann.
Sie sah sich um. »Wo ist sie? Wo ist Sarah?«
Der andere Beamte ergriff nun das Wort. »Miss Alby, wir wollten Sie bitten, uns zu begleitenÉ«

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ie starrte ihn an. Zwischen den beiden Männern hindurch konnte sie durch einen Spalt in das Wohnzimmer mit dem dröhnenden Fernseher hineinsehen. Ihre Mutter saß in dem Sessel, in dem sie immer saß, die unvermeidlichen Kartoffelchips neben sich. Allerdings blickte Betsy Alby diesmal nicht auf den Bildschirm, was ungewöhnlich war, denn normalerweise ließ sie sich keine Sekunde der jeweiligen Sendungen entgehen. Sie sah zu ihrer Tochter hin. Auch in ihrem Gesicht war etwas, das Liz Angst einflößte.
»Begleiten?«, fragte sie schwerfällig. »Wohin begleiten?«
Sie hatte die Wohnungstür noch nicht hinter sich zugezogen. Einer der Männer griff an ihr vorbei und schloss die Tür.
Miss Alby, ich möchte Sie ausdrücklich darauf hinweisen, dass es sich nicht um Ihre Tochter handeln muss«, sagte er. »Aber heute Vormittag wurde die Leiche eines Kindes entdeckt. Der Beschreibung nach könnte es Sarah sein, aber natürlich wissen wir das nicht genau. Es sind zwei Wochen vergangen, und das Aussehen der Toten hat sehr gelitten, daher wollen wir es Ihnen ersparen, sie zu identifizieren. Aber wir würden Ihnen gern die Kleidungsstücke zeigen.«
Zu dem Gefühl, ersticken zu müssen, gesellte sich nun auch noch heftiger Schwindel. Die Leiche eines KindesÉ es konnte nicht Sarah sein. Auf keinen Fall.
»WieÉ« Ihre Stimme klang, als komme sie von weit her. »WieÉ ich meine, wie ist denn dieses Kind gestorben? Ist esÉ ertrunken?«
An einem Strand voller Menschen kann kein Kind ertrinken. Schon deshalb kann es keinesfalls Sarah sein!
»Wir wissen noch nichts Genaues. Es scheint sich jedoch um ein Gewaltverbrechen zu handeln.« Die Blicke beider Männer waren jetzt voller Besorgnis. »Miss Alby, möchten Sie ein Glas Wasser?«
Sie wusste, dass sie weiß wie Papier geworden sein musste, sie konnte es fühlen.
»Nein«, krächzte sie.
»Möchten Sie vielleicht, dass der Vater Ihrer Tochter Sie begleitet? Wir könnten bei ihm vorbeifahren.«
»MeinÉ Sarahs Vater schläft um diese Zeit noch. IchÉ nein, er muss nicht dabei sein.«

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en Vorschlag, Betsy Alby könnte mitkommen, machten die Beamten gar nicht erst. Auch wer sie nicht näher kannte, begriff instinktiv, dass sie sich für nichts in der Welt aus ihrem Fernsehsessel erheben würde.
»Glauben Sie, dass Sie es schaffen?«
Sie nickte. Es war sowieso nicht Sarah. Es ging nur darum, sich in dieser Frage Gewissheit zu verschaffen.
Die armen Eltern von dem Kind, dachte sie und hatte noch immer den Eindruck, dass der Boden unter ihren Füßen schwankte, wie schrecklich für sie! Ein Gewaltverbrechen!
»Wir können gehen«, sagte sie.

Donnerstag, 24. August
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erndale House war seit Generationen im Besitz der Familie Quentin, aber es war mehr als hundert Jahre her, dass Menschen dort wirklich gewohnt, ihren Lebensmittelpunkt in dem geräumigen Haus in East Anglia gehabt hatten. Später war es nur noch als Ferienhaus genutzt worden. Das lag vor allem natürlich daran, dass sich die Harold Quentin & Co., die Bank von der die Quentins lebten, in London befand und es daher niemandem eingefallen wäre, sich viele Autostunden von der englischen Hauptstadt entfernt niederzulassen.

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um anderen war Ferndale House auch nicht gerade einladend. Wer immer das schwere, dunkle, steinerne Gebäude einst entworfen und gebaut hatte, er musste entweder selbst schwermütig gewesen sein oder vorgehabt haben, andere in die Schwermut zu treiben. Dunkelbraun gebeizte Holzdecken drückten auf alle Räume und fanden ihr Pendant in den Fußböden aus schwarzem Marmor. Die Fenster waren so klein, dass sie kaum Tageslicht einließen, und zudem waren die Bäume, die irgendein wenig vorausschauender Gärtner dicht an die Hausmauern gepflanzt hatte, inzwischen zu meterhohen Ungetümen mit weit ausladenden Kronen geworden, die zuverlässig jeden Sonnenstrahl abfingen, der sich in eines der Zimmer hätte verirren können.

Z
u Frederic Quentins Erstaunen schien sich Virginia an dem Lichtmangel in ihrem selbst gewählten Zuhause nicht zu stören. Als sie zwei Jahre zuvor immer drängender dafür plädiert hatte, von London dorthin zu ziehen, hatte er vorgeschlagen, doch wenigstens die Bäume, die direkt am Haus standen, fällen zu lassen, um nicht in dem Gefühl leben zu müssen, nach und nach von dem Wald überwuchert und verschlungen zu werden.
»Nein«, hatte Virginia gesagt, »es gefällt mir, wie es ist.«

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s gab kein Personal im Haus. Seit fast fünfzehn Jahren wurde das Anwesen von einem Verwalterehepaar versorgt, das in einem kleinen Häuschen gleich an der Grundstückseinfahrt lebte, zehn Minuten zu Fuß vom Haupthaus entfernt. Grace und Jack Walker waren beide schon fast sechzig Jahre alt, sehr zurückhaltende, bescheidene und fleißige Leute. Jack unternahm noch gelegentlich Fahrten für Trickle & Son, ein Transportunternehmen, bei dem er früher fest angestellt gewesen war. Ansonsten kümmerte er sich darum, dass regelmäßig die Gärtner bestellt wurden, um den Park in Ordnung zu halten, und dass Schäden am Haus oder an der hohen Grundstücksmauer rasch repariert wurden. Vieles davon erledigte er selbst, andernfalls wusste er, wen man zu Hilfe holen musste. Grace putzte im Haupthaus, zumindest in dem Teil, der von der Familie Quentin bewohnt wurde. Ein ganzer Flügel stand leer, weil Virginia fand, es ergebe keinen Sinn, jeden Tag in fünf Salons spazieren zu gehen und abends zu grübeln, in welchem von vier Esszimmern man sein Dinner einnehmen wollte. Also hatte sie den größeren Teil des Hauses abgeriegelt, und nur einmal im Monat zog Grace dort mit einer Putzkolonne durch, ließ Staub wischen, lüftete und sah nach, ob an irgendeiner Stelle das handwerkliche Geschick ihres Mannes vonnöten war. Die Quentins bewohnten den Westteil: mit einer schönen, großen Küche, in der Virginia selbst kochte, einem Wohnzimmer, einer Bibliothek, die bei gesellschaftlichen Anlässen als Esszimmer diente, und vier Schlafzimmern. Von der Küche aus konnte man direkt nach draußen in den Park gelangen. Dort, auf einem der wenigen sonnigen Flecken, stand Kims Schaukel, und an der Wäscheleine daneben trocknete Virginia die Wäsche. Es war eine überschaubare kleine, dämmrige Welt.

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eder Tag glich dem vorangegangenen. Wenn es irgendwo Gefahren gab, so spielten sie sich anderswo ab, weit weg, jenseits der Mauern, die den Park umschlossen. Jenseits der kleinen Abenteuer, die Kim in der Schule erlebte, und der Sorgen, die Grace manchmal mit Virginia besprach und bei denen es sich im Wesentlichen um die zu hohen Cholesterinwerte ihres Mannes handelte und um die Aspekte, unter denen Grace Walker die allgemeine Weltpolitik beleuchtete.
Es war nichts, was Anlass zur Beunruhigung gegeben hätte.
Es war das Leben, das Virginia Quentin für sich gewählt hatte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.01.2007