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»Noch ist Köhler dabei,
seine Rolle zu finden«

Eine Analyse des Bielefelder Historikers Dr. Tobias Kies

Von Lars Rohrandt
Berlin (WB). Seit Horst Köhler die Bundesregierung kritisiert und zwei Gesetze nicht unterzeichnet hat, ist die Kennzeichnung »politischer Bundespräsident« in der Öffentlichkeit aufgetaucht. Doch so eigen, wie das klingen soll, ist es gar nicht.

»Oft ist der jeweils aktuelle Bundespräsident in der Vergangenheit als der bis dahin politischste beschrieben worden«, sagt Dr. Tobias Kies. »Auch die Bezeichnung Ýpolitischer PräsidentÜ gab es schon häufiger.«
Der 37-jährige Historiker beschäftigt sich derzeit an der Universität Bielefeld mit den Bundespräsidenten der Jahre 1949 bis 1999 (also mit Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Gustav Heinemann, Walter Scheel, Karl Carstens, Richard von Weizsäcker sowie Roman Herzog) und fragt, was in der jeweiligen Zeit als politisch erachtet wurde.
»Im Zusammenhang mit dem Amt des Bundespräsidenten erscheinen ÝPolitikÜ und ÝpolitischÜ in den Quellen als unpräzise, stets wandelbare Kampfvokabeln«, lautet Kies' Fazit. Eine allgemein anerkannte Vorstellung oder gar eine Definition existieren nicht. Auseinandersetzungen um die Rollenbeschreibung eines »politischen« Bundespräsidenten sind daher programmiert.
Der Bielefelder Historiker plädiert für ein offenes Verständnis von Politik, das Politik als einen öffentlichen Konflikt, bei dem es um Machtgebrauch und Konsensbedarf geht, beschreibt. In der Bundesrepublik hat sich hier seit 1949 der Schwerpunkt verlagert. Wurde in den 1950er und 1960er Jahren der Kampf um Macht betont, so ist es heute der Interessenskonflikt.
An diesem Punkt werden die gegensätzlichen Beurteilungen der Rolle Horst Köhlers nachvollziehbar. Er ist sehr politisch, weil er sich öffentlich in die Diskussion der Parteien einmischt, sagen die einen. Er ist überhaupt nicht politisch, weil er die Hauptregel der Politik, das Suchen nach Kompromissen, in Frage stellt, meinen die anderen.
Als Historiker fällt Kies kein abschließendes Urteil: »Noch ist Köhler dabei, seine Rolle zu finden.« Entscheidend werde sein, welche Folgen seine Wortmeldungen haben. »Der Bundespräsident kann aufgrund seiner herausgehobenen verfassungsrechtlichen Stellung bestimmte Inhalte leichter als andere auf die Tagesordnung setzen, er kann der wichtigste Meinungsbilder des Landes sein.« Zugespitzt: Es wird sich herausstellen, ob Köhler mit seiner Regierungskritik lediglich Politik(er)verdrossenheit fördert oder er als unbequemer Mahner nicht nur von der Bevölkerung, sondern auch von der Bundesregierung anerkannt wird.
Während sich stets wandelte, was politisch ist, blieb das Verhältnis des Staatsoberhauptes zur Politik gleich: »Das war zu jedem Zeitpunkt strittig.« Ein Beispiel ist die Auseinandersetzung zwischen Heuss und Kanzler Konrad Adenauer, der Heuss als unpolitisch ansah und das Präsidentenamt gerne mit sich und mehr Macht ausgestattet hätte. Heuss wirkte in einem anderen Verständnis politisch. »Er wollte die Demokratie in den Menschen verankern.«
Heuss' Haltung zum Amt ist bis heute stilbildend für alle Nachfolger: über den politischen Kämpfen ruhen und als ausgleichende Kraft zwischen den Parteien wirken. »Damit hat der Bundespräsident die Aufgabe eines Hüters der Politik erhalten, der nicht gestaltet, sondern pflegt.« Doch der öffentlich dominierende Wortgebrauch von »politisch« ist dieser: »Wenn Lübke, Heinemann, Scheel wie Köhler als Ýpolitische PräsidentenÜ charakterisiert wurden, dann, weil sie sich in tagespolitische Debatten einmischten.« Auch Scheel nahm wie Köhler die Aufgabe des Hüters der Verfassung wahr: Er verhinderte 1976 die Abschaffung der Gewissensprüfung bei Wehrdienstverweigerern, da er die Bundesrat-Zustimmung für notwendig hielt.
Als erstes Staatsoberhaupt hatte Carstens keine Ambitionen, sich einzumischen. Er inszenierte sich betont unpolitisch. »Entgegen weit verbreiteter Auffassung hielt sich auch von Weizsäcker aus tagespolitischen Auseinandersetzungen zumeist heraus«, meint Kies. In Tradition zu Heuss sah von Weizsäcker, der die Parteien scharf kritisierte, seine Aufgabe darin, einen freiheitlich-demokratischen Grundkonsens zu vermitteln. In diese Reihe der Integrationsfiguren gehört auch Johannes Rau.
Mit Blick in die Präsidentenzeit Heinemanns (1969 bis 1974) sind Köhlers Zweifel, ob die Politik den Menschen heute noch genügend Orientierung gebe, besonders interessant. »In den 1970er Jahren weiteten sich die Erwartungen an das Amt in vielerlei Hinsicht aus«, sagt Kies. »Studentenbewegung, Terrorismus, Arbeitslosigkeit, Energiekrise, Ost-West-Konflikt und Staatsverschuldung ließen immer wieder den Ruf nach einem Präsidenten erklingen, der politische Orientierung in einer unübersichtlichen Welt böte.«
Köhler scheint das Land mehr als 30 Jahre später vor vergleichbar großen Aufgaben zu sehen. »Die notwendige grundlegende Erneuerung Deutschlands haben wir noch nicht geschafft. Da stehen wir erst am Anfang«, sagt er. Köhler will die Distanz verkürzen, die er zwischen Bürgern und Politik sieht. Für dieses Ziel ist er bereit, Wege zu beschreiten, die sich von denen seiner acht Vorgänger auch einmal unterscheiden. Er weiß: Für das Amt des Bundespräsidenten gibt es keine Stellenbeschreibung.

Artikel vom 03.01.2007