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Bücher-Schätze im Palast
Kalocsas wichtigste Sehenswürdigkeit ist eine schöne Renaissance-Bibliothek
Ein gottverlassener Anleger inmitten des Nichts - dort, wo die Donau träge durch die Puszta fließt. Die Häuser sind ärmlich, die Straßen schlecht, ein paar kläffende Köter und das Getrappel der Pferde vor dem klappernden Wagen sind zu hören.
Schnurgerade strebt die Straße Kalocsa zu, einer Kleinstadt, dessen erster Eindruck das Gefühl vermittelt, die Welt brauche diesen Ort nicht. Die Paprikafabrik bietet ein paar Arbeitsplätze, auf dem Markt hingegen sind mehr als drei Viertel der Stände leer. Und die wenigen Geschäfte sind nicht der Rede wert.
Für die Touristen an Bord der »MS Flamenco«, die hier einen halben Tag lang am Ufer liegt, bemüht man sich dennoch nach Kräften, um ihnen ein paar schöne Erinnerungen zu bescheren. Mit einem kleinen Paprikamuseum und Reiterspielen in der Puszta gelingt dies sogar, doch aufhorchen lässt erst das Orgelkonzert in der Domkirche.
Schon von außen macht das barocke Gotteshaus einen prächtigen Eindruck, im Inneren lässt die reiche Verzierung die Besucher den Atem anhalten.
Kalocsa ist einer jener Orte, die ihre Schätze nicht auf dem Silbertablett präsentieren. Denn die wichtigste Sehenswürdigkeit verbirgt sich hinter den Mauern des erzbischöflichen Palastes: Es ist eine Renaissance-Bibliothek, die zu den bedeutendsten und schönsten Büchersammlungen der Welt zählt. Warum sie gerade in Kalocsa zu finden ist? Im Jahre 1002 gründete König Stefan hier ein Bistum, schon kurze Zeit später ließ der Erzbischof eine Burg errichten, die im 12. Jahrhundert zur Festung ausgebaut wurde. In Kalocsa begann man frühzeitig, Handschriften zu sammeln. Doch die Türkenherrschaft verhinderte den kontinuierlichen Aufbau der Bibliothek. Schlimmer noch: Wertvollste Bestände wurden willkürlich vernichtet.
1529 zerstörten die türkischen Truppen die Stadt gar vollständig. Die bischöfliche Burg wurde als Festung weiter genutzt und 1602 sogar renoviert, die Stadt aber blieb verfallen. Bei ihrer Vertreibung 1686 brannten die Türken die bischöfliche Burg nieder, Erzbischof Kollonich begann den Wiederaufbau mit der Renovierung der gotischen Kapelle, seine Nachfolger erweiterten den Bau bis zu seinem Abriss und dem Bau der neuen Residenz ab 1775. Zugleich belebte sich die Stadt wieder.
Aber schon im Jahr 1715 dienten die Überreste der Sammlung wieder als Grundstock für eine neue Kollektion. Es war Adam Patachich, der als Bischof von Nagyvarad bereits über eine respektable Kollektion verfügte und beschloss, in Kalocsa die bibliophile Tradition wieder aufleben zu lassen. In den acht Jahren seiner Amtszeit kaufte er über Agenten in allen bedeutenden Metropolen Europas bedeutende Werke auf. Am 18. Juni 1784 vereinigte er seine Privatsammlung mit der vorhandenen Bibliothek, die zu diesem Zeitpunkt 19 000 Bücher zählte. Patachich ließ die Residenz umbauen und bestimmte zwei Stockwerke des Ostflügels als Aufbewahrungsort der Schätze.
Bis heute wuchs der Bestand auf 150 000 Bücher. Die Hälfte davon sind religiöse Werke, eines enthält sogar eine Handschrift von Martin Luther. Aber man findet auch geographische Literatur, juristische Werke, Belletristik und Poesie. Gut 50 Prozent aller Bücher sind in Latein verfasst, es finden sich aber auch einzelne Exemplare in Sprachen afrikanischer und amerikanischer Ureinwohner sowie der Inuit. Als ältestes Werk gilt ein Pergamentkodex aus dem Jahr 1040, er enthält eine Polemik des Heiligen Fulgentius. Die Inkunabelnsammlung der Bibliothek umfasst 508 Wiegendrucke. Thomas Albertsen

Artikel vom 06.01.2007