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Ja, das ist es«, stimmte Nathan zu. Er wirkte angeschlagen, aber nicht so am Boden zerstört wie seine Frau. Manchmal, dachte Virginia, hängen derartige Eindrücke aber auch einfach mit Äußerlichkeiten zusammen. Livia sah auch deshalb so elend aus, weil sie in Mrs. OÕBrians schrecklichem Morgenmantel steckte. Nathan trug offensichtlich seine eigenen Sachen, Jeans und einen Pullover. Sie waren zerknittert und angegriffen vom Salzwasser, aber sie passten, und sie gehörten zu ihm. Kleinigkeiten wie diese vermochten die Psyche eines Menschen durchaus zu stabilisieren.
»Was sagt der Anwalt?«, fragte Livia ihren Mann, aber sie machte nicht den Eindruck, als interessiere sie die Antwort wirklich. Zumindest schien sie nicht zu glauben, dass es eine Antwort sein könnte, die Zuversicht vermittelte.
»Er sagt, dass es schwierig werden wird«, antwortete Nathan denn auch mit verhaltenem Optimismus in der Stimme. »Vor allem, wenn es uns nicht gelingt, herauszufinden, welcher Frachter uns gerammt hat. Und dann müssen wir es noch beweisen.«
»Wie soll das denn gehen?«
»Ich werde versuchen, einen Weg zu finden. Aber gib mir ein bisschen Zeit. Ich bin auch erst gestern aus dem Wasser gefischt worden. Ich brauche einen Moment, um den Schock zu verarbeiten.« Er klang leise gereizt.
»Wenn ich irgendwie helfen kannÉ«, bot Virginia an.
»Das ist nett, sehr nett«, sagte Nathan, »ich wüßte jedoch nichtÉ« Er hob in einer hilflosen Geste beide Hände.
»Nathan, wir können hier nicht einfach wohnen bleiben«, drängte Livia. »Mrs. OÕBrian wird Geld dafür haben wollen, undÉ«
»Das müssen wir vielleicht nicht gerade jetzt besprechen!«, fuhr er sie an. Virginia hatte plötzlich den Eindruck, dass sie störte. Seine desolate finanzielle Situation mochte Nathan sicher nicht vor einer Fremden offen legen.
Sie erhob sich rasch. »Ich muss sowieso noch einiges erledigen. Livia, ich bringe Ihnen rasch die Kleider, dann bin ich weg.«

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uf dem Weg hinaus zu ihrem Auto kam ihr ein Einfall. Zwar war sie nicht sicher, was Frederic davon halten würde - genau genommen war sie ziemlich sicher, dass er nichts davon halten würde -, aber sie beschloss, Frederic für den Moment beiseite zu schieben.
Als sie in die Küche zurückkehrte, redete Nathan gerade schnell und, wie es Virginia schien, ungeduldig, ja fast aggressiv auf seine Frau ein. Da er jedoch deutsch sprach, konnte sie nicht verstehen, worum es ging.
»Mir ist da gerade ein Gedanke gekommen«, sagte sie und tat so, als habe sie nichts von der gereizten Stimmung gemerkt. »Wissen Sie, mein Mann und ich reisen morgen ab. Nach Hause. Unser Haus drüben in Dunvegan steht dann leer. Warum wohnen Sie nicht dort, solange Sie hier bleiben und IhreÉ Ihre Angelegenheiten regeln müssen?«
»Das können wir nicht annehmen«, erwiderte Nathan, »und wir können tatsächlich nichts zahlen.«
»Ich weiß. Aber Sie könnten sich im Gegenzug ein wenig um Haus und Garten kümmern. Wir finden es immer beruhigend, wenn jemand dort wohnt. Wirklich, wir fragen auch oft Freunde oder Bekannte, ob sie nicht ein bisschen Zeit hier oben verbringen möchten.«
Er lächelte. »Das ist sehr freundlich, Mrs. Quentin. Aber Freunde und Bekannte sind etwas anderes. Wir sind Ihnen im Grunde wildfremd, gestrandete SchiffbrüchigeÉ Fremde soll man nicht einlassen, das wissen Sie bestimmt.«
Sie ging auf seinen scherzhaften Ton nicht ein. »Überlegen Sie es sich. Zumindest Ihre Frau, Mr. Moor, ist mir nicht fremd. Aber es ist natürlich allein Ihre Entscheidung.«
Sie stellte die Tasche mit den Kleidungsstücken neben den Tisch.
»Wie gesagt, morgen sind wir weg«, wiederholte sie. »Sie müssten nur vorher wegen des Schlüssels vorbeikommen.«

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ie strich Livia über den Arm und nickte Nathan kurz zu, dann verließ sie die Küche. Sie hatte gesehen, dass Mrs. OÕBrian draußen fertig war und auf das Haus zukam, und aus irgendeinem Grund hatte sie gerade keine Lust auf eine Begegnung. Vielleicht, weil sie sich plötzlich große Sorgen machte. Natürlich würden die Moors auf ihr Angebot eingehen, sie hatten gar keine Wahl. Aus Höflichkeit, aus Stolz zierten sie sich, aber vermutlich noch heute im Laufe des Tages, spätestens morgen in aller Frühe würden sie nach dem Schlüssel fragen.
Ehe du dich versiehst, haben wir sie am Hals, hatte Frederic gesagt.
Sie musste ihm beibringen, dass es nun tatsächlich so gekommen war.
Obwohl - konnte es ihn wirklich stören? Sie würden in Norfolk sein und ihren ganz normalen Alltag leben. Die Moors würden hier oben auf der Insel bleiben, eine Woche oder zwei Wochen vielleicht, und sehen, ob sie ihre desolate Situation klären konnten.
Das war alles. Kein Grund für Frederic, sich aufzuregen.
Dennoch hatte sie das sichere Gefühl, dass einiger Ärger auf sie zukam.

3
Frederic Quentin galt in seinem Freundes- und Bekanntenkreis als freundlich, aber schweigsam und manchmal sogar als ein wenig verschlossen, als ein Mann, der sich vorwiegend um seinen Beruf kümmerte und nicht allzu viel Zeit und Energie in sein Privatleben investierte. Wenige vermochten sich vorzustellen, dass er über sich, seine Frau und ihrer beider Beziehung zueinander überhaupt je nachdachte. Doch tatsächlich stellte er dann und wann Überlegungen an, und es war keineswegs so, dass ihn sein Familienleben nicht interessierte.

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r wusste, dass er viel zu wenig Zeit mit seiner Frau und seiner Tochter verbrachte, und manchmal nahm er sich vor, sich mehr darum zu kümmern, dass Virginia nicht so häufig allein war, auch wenn sie selbst diesen Umstand offenbar als nicht unangenehm empfand. Es konnte nicht normal sein, wenn eine Frau vorwiegend in Gesellschaft ihrer siebenjährigen Tochter lebte, in der Einsamkeit eines viel zu großen Landhauses, das wiederum in einem riesigen Park lag, dessen hohe Bäume in die Zimmer zu wachsen und sie zu erdrücken schienen. Ferndale House, der Landsitz der Quentins in Norfolk, war sehr düster, und er war kaum der richtige Ort für eine sechsunddreißigjährige Frau, die eigentlich mitten im Leben hätte stehen sollen.

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rederic überlegte oft, dass er mehr Zeit und Energie darauf verwenden müsste, herauszufinden, was seine Frau so traurig stimmte, was sie häufig so bedrückt erscheinen ließ. Gespräche hätten ihr vielleicht geholfen, aber er war nicht sehr geübt darin, die komplizierte Seelenlage eines anderen Menschen zu ergründen. Eher verspürte er oft eine unbestimmte Furcht davor, sich in Regionen zu wagen, die ihm fremd waren und von denen er nicht wusste, was alles er dort finden würde. Manches wollte er einfach nicht wissen.
Und außerdem: Gerade jetzt hatte er einfach so schrecklich wenig Zeit.
Denn Frederic Quentin war entschlossen, sich ins Unterhaus wählen zu lassen, und er wusste, dass er gute Chancen hatte.

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ie kleine, feine Privatbank, die sein Urgroßvater gegründet hatte und die er selbst heute mit großem Erfolg führte, sicherte ihm neben beträchtlichem Wohlstand auch den Kontakt zu einflussreichen und vermögenden Persönlichkeiten des Landes. Die Harold Quentin & Co. galt als beste Adresse für die Mitglieder der upper class, und Frederic Quentin hatte es immer verstanden, für seine Kunden nicht nur der zuverlässige, umsichtige Bankier zu sein, sondern auch der Freund, der zu großzügigen Festen in sein Landhaus einlud, der an Golfturnieren und Segelausflügen teilnahm, der Kontakte genau dort pflegte, wo sie ihm nützlich sein konnten. Er hatte sich ein erstklassiges Sprungbrett ins Parlament gebaut. Mit vierundvierzig Jahren war er dicht davor, sein Ziel zu verwirklichen.
Eine sich durch intensive Gespräche möglicherweise verschlechternde psychische Verfassung Virginias war das Letzte, was im Augenblick passieren durfte.
Was blieb, war das schlechte Gewissen seiner Frau gegenüber.

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ls sie ihm beim Mittagessen erzählte, dass sie das schiffbrüchige deutsche Ehepaar in ihrem Ferienhaus einquartieren wollte, dass sie genau genommen dies mit den beiden bereits - von ihrer Seite aus sogar verbindlich - vereinbart hatte, wollte er sie schon verärgert fragen, was sie sich dabei denke, so einfach über ein Haus zu verfügen, das schließlich nicht ihr allein gehörte, und darüber hinaus genau das zu tun, was zu unterlassen er sie gebeten hatte. Aber er schluckte seine Verärgerung und die dazugehörende Bemerkung mit einiger Mühe hinunter.

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rauen, die zuviel allein sind, tun seltsame Dinge, dachte er resigniert, manche haben plötzlich zwanzig herrenlose Hunde im Haus, andere bieten schiffbrüchig gewordenen Fremden einen Unterschlupf an. Wahrscheinlich kann ich noch froh sein, dass ich daheim nicht ständig auf drogensüchtige Kids treffe, die sie irgendwo aufsammelt. Insgesamt komme ich noch immer ganz gut weg bei ihr.
»Sei trotzdem vorsichtig«, sagte er.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.01.2007