09.01.2007
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»Mrs. OÕBrian!«, rief Virginia halblaut, aber sie bekam keine Antwort. Sie sah, dass die Küchentür am Ende des Ganges geschlossen war; vielleicht hielt sich Mrs. OÕBrian dort auf und konnte sie nicht hören.
Aber als sie zögernd in die geräumige Küche mit dem Steinfußboden und den vielen blitzenden und blinkenden Kupfertöpfen an den Wänden trat, war es nicht die Hausfrau, die sie dort antraf. Dafür saß Livia am Tisch, eine große Tasse und ein Stövchen mit einer Kanne darauf vor sich. Die Tasse war leer, aber sie dachte offenbar nicht daran, sich etwas nachzuschenken. Teilnahmslos starrte sie auf die Tischplatte. Sie hob zwar den Kopf, als Virginia eintrat, aber in ihren Augen war keine Regung zu entdecken.
»Livia!«, sagte Virginia erschüttert. »Mein Gott, ich habe gehört, was Ihnen und Ihrem Mann zugestoßen ist! Da dachte ichÉ« Sie sprach nicht weiter, sondern ging stattdessen auf Livia zu und nahm sie in die Arme. »Ich musste einfach nach Ihnen sehen!«
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Sie setzte sich ihr gegenüber und betrachtete sie. Livia trug einen Morgenmantel, der offenbar Mrs. OÕBrian gehörte; er war mit einem grellfarbenen Schottenmuster bedruckt und viel zu kurz. Mrs. OÕBrian war ziemlich klein, während Livia groß, aber sehr mager war.
»Ich habe Ihnen etwas zum Anziehen mitgebracht«, sagte Virginia, »die Tasche ist draußen im Auto. Ich gebe sie Ihnen nachher. Wir haben ja ungefähr die gleiche Größe. Die Sachen von Mrs. OÕBrian sind Ihnen jedenfalls eindeutig zu kurz.«
Livia, die bislang geschwiegen hatte, öffnete endlich den Mund. »Danke.«
»Das ist doch selbstverständlich. Ist der Tee in Ordnung? Dann sollten Sie noch etwas trinken. Das ist jetzt wichtig.«
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»Möchten Sie darüber sprechen?«, fragte Virginia.
Livia wirkte unschlüssig. »EsÉ es war soÉ schrecklich«, brachte sie nach einer Weile hervor. »DasÉ WasserÉ Es war so kalt.«
»Ja. Ja, das kann ich mir vorstellen. Es tut mir so entsetzlich leid, dass Ihnen das passieren musste. Sie konntenÉ nichts ret
ten?«
»Nichts. Gar nichts.«
»Aber Ihr Leben. Und das ist das Wichtigste.«
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Virginia wiederholte: »Sie haben Ihr Leben!« Doch gleichzeitig dachte sie, dass sich dies leicht dahinsagen ließ. Hätte sie selbst all ihr irdisches Hab und Gut verloren, könnte man sie mit dem Hinweis aufs nackte Überleben womöglich auch nicht trösten.
Frederic fiel ihr ein, und sie fragte vorsichtig: »Waren SieÉ sind Sie versichert?«
Livia schüttelte langsam den Kopf. »NichtÉ was unseren eigenen Schaden betrifft.« Sie sprach schleppend. Und plötzlich schaute sie an sich herab, an dem häßlichen, grellfarbenen Bademantel, und die Tränen schossen ihr in die Augen. »Ich hasse dieses Ding! Es ist so scheußlich! Ich hasse es, so etwas tragen zu müssen!«
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Ich hole Ihnen gleich meine Sachen«, sagte Virginia und wollte aufstehen, aber Livia rief fast panisch: »Nicht! Gehen Sie nicht weg!«
Virginia setzte sich wieder.
»Okay. Ich bleibe, solange Sie mögen. Ich kann die Tasche auch nachher holen.« Sie sah sich um. »Wo ist denn eigentlich Ihr Mann?«
»Oben. In unserem Zimmer. Er telefoniert mit einem Anwalt in Deutschland. AberÉ wie will er jemanden verklagen? Wir wissen doch gar nicht, wer es war!«
»Vielleicht läßt sich das ja noch herausfinden. Sicher weiß die Küstenwache, wer hier zu welcher Zeit vorbeischippert. Ich kenne mich da nicht aus, aberÉ Geben Sie doch noch nicht auf, Livia! Ich verstehe, dass Sie jetzt nur verzweifelt und geschockt sind, aberÉ«
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»Sie haben kein Bankkonto mehr in Deutschland?«
»Nathan hat alles aufgelöst. Er nannte das Ýdie totale FreiheitÜ. Ohne Geld zu sein und sich in den verschiedenen Häfen mit Gelegenheitsjobs durchzubringen. Er hat das Haus verkauft, das, in seinem baufälligen Zustand und dazu noch mit einer großen Hypothek belastet, aber nicht allzu viel eingebracht hat. Er hat die Konten geleert und dann das Schiff gekauft. Ich habe wenigstens noch durchgesetzt, dass wir unter der Adresse von Bekannten gemeldet bleiben und eine Krankenversicherung für Auslandsreisen abschließen. Aber ansonstenÉ Als finanzielle Reserve haben wir nur den Schmuck mitgenommen, den ich von meiner Mutter geerbt hatte. Der war ziemlich viel wert. Aber er liegt jetzt am Meeresgrund.«
»Vielleicht könnten TaucherÉ«
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Virginia dachte, dass Frederic an diesem Morgen tatsächlich eine gewisse Hellsichtigkeit bewiesen hatte, als er von der Versicherungsfrage gesprochen hatte. Ihr war es eigenartig vorgekommen, an Geld zu denken, wenn jemand gerade knapp mit dem Leben davongekommen war, aber nun, da sie diesem Häuflein Elend gegenübersaß, begriff sie, wie tiefgreifend tatsächlich auch die materielle Tragödie dieser Menschen war. Wie konnte man leben, wenn man nichts, gar nichts mehr auf der Welt besaß? Und kaum Hoffnung hatte, irgendetwas von dem Verlorenen zurückzubekommen.
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Livia schüttelte den Kopf. »Nathan hat seine Eltern ganz früh verloren. Angehörige gab es keine. Er ist in verschiedenen Heimen aufgewachsen. Und bei mir war nur noch mein Vater am Leben. Er ist dann vergangenes Jahr im September gestorben.« Sie lächelte ein wenig, es war ein trauriges, bitteres Lächeln. »Damit fing ja das Unglück auch irgendwie anÉ«
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typische Seefahrer. Bis auf das Gesicht.
Eher ein Intellektueller, dachte sie.
»Livia, ichÉ«, begann er, dann sah er, dass Besuch da war.
»Entschuldige«, fuhr er auf Englisch fort, »ich dachte, du bist allein.«
»Nathan, das ist Virginia Quentin«, sagte Livia, »die Dame, in deren Ferienhaus ich in der letzten Woche ausgeholfen habe. Virginia, das ist mein Mann Nathan.«
»Nathan Moor«, sagte Nathan und reichte Virginia die Hand. »Meine Frau hat viel von Ihnen erzählt.«
»Es tut mir sehr leid, was geschehen ist«, sagte Virginia, »wirklich, das ist ein schreckliches Unglück.«
Artikel vom 09.01.2007