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Sie machte keinerlei Anstalten, sich in Richtung Insel zu bewegen. Zwar hielt sie sich mit matten, mechanischen Bewegungen über Wasser, aber ihre Augen waren weit aufgerissen und starr, und sie schien in diesem Moment nicht ansprechbar zu sein. Nathan drehte sich auf den Rücken, packte Livia unter beiden Armen und zog sie mit sich zur Insel. Er keuchte, schluckte immer wieder Wasser. Wenigstens leistete Livia keinerlei Widerstand. Er ließ sie für einen Moment los, zog sich langsam und mühevoll auf die Insel hinauf, wandte sich dann um, zerrte Livia ebenfalls hinauf. Er gab nicht auf, obwohl er zwischendurch meinte, keine Sekunde weitermachen zu können. Als er auch Livia in Sicherheit gehievt hatte, brach er völlig erschöpft zusammen.
Erst nach einer ganzen Weile konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen.

S
ie hatten es geschafft. Sie waren nicht untergegangen, waren nicht in die Tiefe gerissen worden. Trotz allem gelang es ihm, für ein paar Sekunden Dankbarkeit zu empfinden. Beide hatten sie überlebt, dabei war ihr Leben praktisch keinen Pfifferling mehr wert gewesen. Sie besaßen nichts mehr als das, was sie auf dem Leib trugen: sie einen hellblauen Schlafanzug, der aus kurzen Hosen und einem ausgeleierten Oberteil bestand, er zumindest noch seine Jeans, Unterwäsche, einen Wollpullover und ein Paar Socken. Seine Schuhe hatte er verloren, als er über Bord gehechtet war.
Und eine Rettungsinsel, dachte er mit einem Anflug von Sarkasmus, eine Rettungsinsel besitzen wir auch noch. Kann man ja auch immer mal brauchen.
Noch immer war die Nacht klar, blitzten hier und da die Sterne am Himmel. Teilnahmslos starrte er über das dunkle Wasser. Für den Moment weigerte sich sein Verstand, weiterzudenken. Weder was die Vergangenheit noch was die Zukunft betraf. Selbst die Verzweiflung, die ihm wenige Minuten zuvor noch die Tränen in die Augen getrieben hatte, konnte er nicht mehr spüren. In ihm war nur Leere, eine tief erschöpfte, fast barmherzige Leere.


Samstag, 19. August
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V
irginia Quentin hörte in den frühen Morgenstunden des neunzehnten August von dem Schiffsunglück, das sich nicht weit vor den äußeren Hebriden in der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag ereignet hatte. Es gab einen kleinen Radiosender auf den Inseln, der Meldungen verbreitete, die hauptsächlich für die Inselbewohner interessant waren. Dabei ging es in erster Linie um das Wetter, dem hier oben, wo viele Menschen vom Fischfang lebten, eine entscheidende Bedeutung zukam. Natürlich wurden auch manchmal Katastrophen gemeldet; es hatte Fischer gegeben, die nicht zurückgekehrt waren, und schon manches Mal hatten die wilden, kalten Winterstürme, die über das Nordmeer herangebraust kamen, Dächer abgedeckt und einmal sogar eine Frau über die Klippen geweht. Was es noch nicht gegeben hatte, zumindest soweit Virginia wusste, war eine derartige Tragödie, die Ausländern zustieß.

S
ie war in aller Frühe aufgestanden und zu ihrem Lauf über die Hochebene am Meer aufgebrochen. Sie liebte die Stille und Klarheit der ersten Morgenstunden; es bereitete ihr keine Probleme, ihr Bett noch vor sechs Uhr zu verlassen und sich an der Frische und Unberührtheit des beginnenden Tages zu berauschen. Auch daheim in Norfolk joggte sie frühmorgens, aber hier oben auf Skye war es ein ganz besonderes Erlebnis. Ein Glas mit eiskaltem Champagner konnte ihrer Ansicht nach nicht so belebend, so prickelnd, so besonders sein wie das Atmen des Windes, der über das Meer gestrichen kam.
Sie fand auch, dass sie hier oben mehr Ausdauer hatte als daheim, was sicherlich am Sauerstoffgehalt der sie umgebenden Luft lag. So oder so aber war sie gut in Form. Sie lief in langen, federnden Schritten, wiegte sich in ihren eigenen Rhythmus hinein, brachte ihren Körper und ihr Atmen in einen vollkommenen Gleichklang. Das Laufen am Morgen gehörte ihr ganz allein und war ihre Kraftquelle für den folgenden Tag. Sie hätte niemals einen anderen Menschen dabeihaben wollen. Sie genoss das Alleinsein, und sie genoss es in der wunderbaren Einsamkeit der Isle of Skye auf eine besondere Weise.

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aheim duschte sie und setzte sich dann, mit einem Handtuch um den Kopf, an den Tisch im Wohnzimmer und trank ihren Kaffee mit viel heißer Milch, hörte Radio dabei, fühlte Kraft und Ruhe in ihrem Körper und sagte sich, dass ihre Ehe mit Frederic zwar in mancher Hinsicht langweilig sein mochte, ihr aber zwei wundervolle Geschenke eingebracht hatte: ihre siebenjährige Tochter Kim und dieses Häuschen in Dunvegan.
Sie hatte sich ihren Gedanken hingegeben und das Radio nur als Hintergrundgeräusch wahrgenommen, aber sie horchte auf, als der Sprecher von dem Unglück berichtete, das einem deutschen Ehepaar zugestoßen war. Mitten in der Nacht waren sie von einem Frachter, in dessen Fahrrinne sie sich befunden hatten, buchstäblich überrollt worden, nachdem offensichtlich eine Verkettung unglücklicher Geschehnisse ein Ausweichmanöver verhindert hatte. Von dem kleinen Segelschiff gab es keine Spur mehr, seine Einzelteile ruhten auf dem Grund des hier überall sehr tiefen Meeres. Den Namen des Frachters, der das Unglück verursacht hatte, oder auch nur seine Nationalität kannte niemand. Der Skipper des Segelschiffs konnte keine Angaben zu seiner Position zum Zeitpunkt des Unglücks geben. Fischer hatten die im Wasser treibende Rettungsinsel gesichtet und das Ehepaar aufgenommen. Die junge Frau, so wurde berichtet, stehe unter Schock. Beide seien unterkühlt, nachdem sie, aus dem kalten Wasser kommend, fast zwölf Stunden in der Rettungsinsel hatten ausharren müssen. Man hatte sie zu einem Arzt gebracht. Seit dem gestrigen Tag seien sie in einem Bed&Breakfast-Hotel nahe Portree untergebracht.
»Also, das werden doch nichtÉ«, sagte Virginia zu sich selbst, sprach den Satz aber nicht zu Ende. Wie viele deutsche Ehepaare, die in einem Segelboot auf Weltreise waren, gab es derzeit auf den Hebriden?

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ie vernahm Frederics Schritte auf der Treppe, stand automatisch auf, holte eine zweite Tasse, füllte sie mit Kaffee und Milch. In den Ferien leisteten sie sich den Luxus, den Morgen mit Kaffee und Geplauder zu vertrödeln. Sie redeten über das Wetter, über irgendwelche Neuigkeiten aus dem Dorf, manchmal auch über Bekannte oder Verwandte. Sie gingen vorsichtig miteinander um und mieden ihre Beziehung als Gesprächsthema, ohne dass es dafür einen ersichtlichen Grund gegeben hätte. Gerade an diesen Urlaubsmorgen, aber manchmal auch daheim in Norfolk, konnte Virginia plötzlich von einem Gefühl des Friedens und der Dankbarkeit durchströmt werden, wenn sie sich selbst betrachtete, zusammen mit Frederic, die kleine Kim, die so hübsch und so liebenswert war, dieses Leben ohne materielle Sorgen in einer geordneten, überschaubaren Welt, die enge Grenzen haben mochte, aber dafür ohne Gefahren, Ängste und Dämonen war. Es gab ein paar wenige Momente, in denen Virginia das sichere Gefühl, dass ihre Welt nicht völlig real war, als beklemmend empfand, aber es waren tatsächlich nur Momente, Augenblicke, die schnell vergingen.

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rederic kam zur Tür herein. Daheim sah sie ihn fast nur in Anzug und Krawatte, aber sie mochte es besonders, wenn er so aussah wie jetzt, in Jeans und grauem Rollkragenpullover, ausgeschlafen und entspannt, ohne den etwas verbissenen Zug um den Mund, den er sonst oft trug, weil ihn sein Beruf und alle seine Karrierepläne stets etwas überanstrengten.
»Guten Morgen«, sagte er und fügte, obwohl die Antwort klar war, die Frage hinzu: »Du bist schon gelaufen heute früh?«
»Es war wunderbar. Wie leben andere Menschen, ohne sich richtig zu bewegen?« Sie reichte ihm seine Kaffeetasse, er setzte sich und nahm den ersten Schluck.
»Nur noch heute«, sagte er, »dann müssen wir zurück. Oder möchtest du mit Kim noch ein wenig bleiben?«
Es waren noch zwei Wochen, bis die Schule begann. Und sie liebte es, hier oben zu sein. Auch Kim liebte es. Dennoch schüttelte Virginia den Kopf.
»Wir kommen mit. Glaubst du etwa, ich lasse dich allein?«

E
r lächelte. Er war so oder so viel allein, zumindest war er ohne seine Familie. Er verließ das Haus morgens um halb acht. Oft kam er nicht vor zehn oder halb elf am Abend zurück. Tagelang hielt er sich in London auf, wo sich seine Bank befand. In Norfolk war er eigentlich nur, wenn es die politische Arbeit in seinem Wahlkreis erforderte. Seine Tochter sah er manchmal die ganze Woche über nicht. Seine Frau im Vorbeilaufen oder abends, wenn sie auf ihn gewartet hatte und noch zehn Minuten mit ihm plauderte, ehe er todmüde ins Bett fiel.
Es war nicht so, dass er diesen Zustand besonders geschätzt hätte. Und bis vor zwei Jahren war es auch ganz anders gewesen. Da hatten Virginia und Kim noch bei ihm in London gelebt, und er hatte sich viel mehr als Teil einer Familie gefühlt als derzeit. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.01.2007