05.01.2007
|
Er hatte sich ins Pier Hotel verzogen, ein Pub, in dem sich vorwiegend Fischer und Hafenarbeiter herumtrieben, und hatte in einer Zeitschrift gelesen, die er sich am Hafen gekauft hatte. Ziemlich spät erst bemerkte er, dass er eine völlig veraltete Ausgabe erwischt hatte, vom Februar diesen Jahres. Nichts von dem, was er dort geschrieben fand, war noch aktuell. Ob das hier jemanden störte? Auf den Hebriden tickten die Uhren schon ein wenig anders, das Leben folgte einem Rhythmus, der sich von dem der übrigen Welt unterschied. Die ganze Zeit über hatte er sich gefragt, wie Menschen so leben konnten. Er hatte sich viele Notizen dazu gemacht, Gedankenfragmente und angerissene Überlegungen niedergeschrieben. Es gab interessante Betrachtungen, die man dazu anstellen konnte. Es war faszinierend, fand er, in das Leben anderer Menschen hineinzublicken.
Gegen fünf Uhr am Nachmittag waren sie endlich aufgebrochen.
S
Er war dennoch entschlossen, den Kurs außerhalb der Hebriden zu nehmen.
Kurz vor neun Uhr hatte die kritischste Passage hinter ihnen gelegen. Livia war längst nach unten in die Kajüte verschwunden. Sie hatte behauptet, müde zu sein und Kopfschmerzen zu haben. Er war nicht traurig gewesen. Ihr ewig waidwunder Blick ging ihm entsetzlich auf die Nerven.
V
Vielleicht würde er gar nicht mehr wie geplant den Hafen von Youghal in Südirland ansteuern, sondern gleich durchsegeln bis zunächst hinunter nach La Coruña. Er hatte keine Lust mehr auf Verzögerungen. Weg von Europa. Endlich freie Fahrt über den Atlantik. Die Karibik. Weiße Strände, Sonnen, Palmen. Ihn hatte die fast mystische Stimmung auf Skye in Regen und Nebel zutiefst fasziniert, aber für den Winter konnte er sich ein Leben in der Wärme auch gut vorstellen. Sehr gut sogar.
Er saß im Cockpit, genoß den Frieden und die Klarheit der Nacht und hing seinen Gedanken nach.
E
E
Er wachte so plötzlich auf, wie er eingeschlafen war.
Er wusste nicht, ob es das Geräusch der leise schlagenden Segel gewesen war, das ihn geweckt hatte, oder das Schlagen der Großschot - wahrscheinlich keines von beiden, sondern ein eigentümliches, lautes Geräusch, das an einen riesigen Hammer erinnerte, der krachend auf eine Stahlplatte schlug.
Er blickte auf, sah, dass die Genua nur noch von der Dünung des Atlantiks bewegt wurde. Der Wind war völlig abgeflaut.
Dieses GeräuschÉ der Hammer, der auf Stahl schlugÉ
Die Lichter, dachte er.
Im selben Moment sah er sie wieder, es waren nur noch drei Lichter, ein rotes, ein grünes und darüber ein weißes, und sie waren höchstens noch eine halbe Seemeile von der Dandelion entfernt. Sie bewegten sich direkt auf sie zu.
Er sprang auf, und es schoss ihm durch den Kopf: Verdammt noch mal, sehen die uns denn nicht?
E
Warum sprang der Motor nicht an? Nicht einmal der Anlasser drehte sich. Er versuchte es noch einmalÉ und noch einmalÉ Nichts geschah.
Im Niedergang tauchte Livias Kopf auf. Er sah wirre Haare, angstvoll weit aufgerissene Augen. Die Motorengeräusche des riesigen Frachters veranstalteten inzwischen einen höllischen Lärm.
»Nathan!«, schrie sie, blieb aber bewegungslos stehen und starrte auf das immer näher kommende Unheil. Mit einer einzigen Bewegung riss er die Rettungsinsel unter dem Steuersitz hervor.
»Runter vom Schiff!«, brüllte er. »Hörst du nicht, sofort runter vom Schiff!«
Livia rührte sich nicht.
»Spring!«, schrie er, und als sie zögerte, packte er sie an den Armen, zerrte sie die Stufen hinauf und stieß sie mit aller Kraft über Bord. Schleuderte die Rettungsinsel hinterher und sprang dann, in der letzten Sekunde, selbst.
D
Das Geräusch des auf Stahl schlagenden Hammers war nun genau über ihm. Eine riesige Welle erfasste ihn, schleuderte ihn mehrere Meter weit zur Seite. Die stählerne Wand des Schiffes, fast zum Greifen nah, zog wie in Zeitlupe an ihm vorbei.
Die Dandelion wurde vom Bug des Frachters frontal getroffen und sofort unter Wasser gedrückt.
I
Die Rettungsinsel, die sich im Wasser entfaltet hatte, musste ebenfalls von der Bugwelle des Frachters erwischt worden sein. Im Schraubenwasser des Schiffs drehte sie sich mit aufgerissener Plane einige Meter von ihm entfernt. Daneben konnte er Livia erkennen. Sie war direkt aus ihrem Bett gekommen, trug daher keine Schwimmweste. Er rief nach ihr, aber sie reagierte nicht. Mit ein paar kräftigen Schwimmstößen war er neben ihr.
»Schwimm, Livia«, drängte er, »los, schwimm endlich! Wir müssen in die Rettungsinsel!«
Artikel vom 05.01.2007