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Da sie über diesem Problem bereits wieder zu verzweifeln drohte, hatte er die Abreise zähneknirschend auf den späten Nachmittag verschoben. Er war sich ziemlich sicher, dass Livia nur noch ein paar Stunden auf dem Festland hatte herausschlagen wollen, aber er konnte ihr das schwerlich nachweisen.
Er hatte sich ins Pier Hotel verzogen, ein Pub, in dem sich vorwiegend Fischer und Hafenarbeiter herumtrieben, und hatte in einer Zeitschrift gelesen, die er sich am Hafen gekauft hatte. Ziemlich spät erst bemerkte er, dass er eine völlig veraltete Ausgabe erwischt hatte, vom Februar diesen Jahres. Nichts von dem, was er dort geschrieben fand, war noch aktuell. Ob das hier jemanden störte? Auf den Hebriden tickten die Uhren schon ein wenig anders, das Leben folgte einem Rhythmus, der sich von dem der übrigen Welt unterschied. Die ganze Zeit über hatte er sich gefragt, wie Menschen so leben konnten. Er hatte sich viele Notizen dazu gemacht, Gedankenfragmente und angerissene Überlegungen niedergeschrieben. Es gab interessante Betrachtungen, die man dazu anstellen konnte. Es war faszinierend, fand er, in das Leben anderer Menschen hineinzublicken.
Gegen fünf Uhr am Nachmittag waren sie endlich aufgebrochen.

S
eit dem Vortag meldeten die BBC im Radio und der Luftdruck auf dem Schiffsbarometer endlich eine stabile Hochdrucklage. Die große Genua hatte er aus dem Segelsack geholt und angeschlagen, um wenigstens zwei Knoten im Schiff zu haben, während er den Kurs querab vom Leuchtfeuer von Rodel auf der Karte absteckte. Vielleicht schafften sie es noch, mit ein wenig Tageslicht die Meerenge zu passieren. Kurz überlegte er, ob Livia die Abreise verzögert hatte, um ihn zu zwingen, zwischen den Inseln Uist und Skye hindurch den direkten Weg nach Süden zu nehmen, anstatt hinaus auf den Atlantik zu segeln. Sie hatten auch zu dieser Frage Diskussionen geführt. Das Schlimme war, dass Livia solche Angst vor dem Wasser hatte.
Er war dennoch entschlossen, den Kurs außerhalb der Hebriden zu nehmen.
Kurz vor neun Uhr hatte die kritischste Passage hinter ihnen gelegen. Livia war längst nach unten in die Kajüte verschwunden. Sie hatte behauptet, müde zu sein und Kopfschmerzen zu haben. Er war nicht traurig gewesen. Ihr ewig waidwunder Blick ging ihm entsetzlich auf die Nerven.

V
om Atlantik her stand eine alte Dünung aus Westen, sie befanden sich jetzt bereits im Gezeitenstrom, der gegen ihren Kurs stand. Egal, dachte er, ein Knoten Strömung gegen mich, zwei Knoten Fahrt macht das Schiff, bleibt noch ein Knoten übrig, der uns nach Südwesten trägt.
Vielleicht würde er gar nicht mehr wie geplant den Hafen von Youghal in Südirland ansteuern, sondern gleich durchsegeln bis zunächst hinunter nach La Coruña. Er hatte keine Lust mehr auf Verzögerungen. Weg von Europa. Endlich freie Fahrt über den Atlantik. Die Karibik. Weiße Strände, Sonnen, Palmen. Ihn hatte die fast mystische Stimmung auf Skye in Regen und Nebel zutiefst fasziniert, aber für den Winter konnte er sich ein Leben in der Wärme auch gut vorstellen. Sehr gut sogar.
Er saß im Cockpit, genoß den Frieden und die Klarheit der Nacht und hing seinen Gedanken nach.

E
r sah die Lichter ganz deutlich. Sie näherten sich von achtern, zwei grüne Lichter, ein rotes und ein weißes darüber. Offensichtlich zwei Frachter, die denselben Kurs fuhren wie er selbst. Er war überzeugt, dass man ihn sehen konnte; er hatte seine Navigationsleuchten eingeschaltet, und der Radarreflektor oben am Mast würde ein deutliches Echo geben. Er musste sich um nichts kümmern. Nachdem er den Sound of Harris verlassen hatte, hatte er den Autopiloten aktiviert, der nun leise schnurrend seinen Dienst tat.

E
r fühlte, wie seine Glieder immer schwerer wurden. Einmal sackte sein Kopf nach vorn, ruckartig wachte er auf, gähnte. Was, zum Teufel, machte ihn so schläfrig? Er war ein Nachtmensch, kam abends, nachts eigentlich erst richtig in Gang. Aber die hohe Luftfeuchtigkeit der letzten Tage, das lange, zornige Warten heute auf den Aufbruch, die schwierige Passage bei verdämmerndem Licht - das alles hatte ihn Kraft gekostet. Sein Kopf sank auf die Brust. Die Müdigkeit war so schwer, so elementar, dass es kaum noch Sinn zu machen schien, sich dagegen wehren zu wollen. Von einem Moment zum anderen fiel er in einen kurzen Schlaf, der, wie er später rekonstruierte, wohl nur wenige Minuten gedauert hatte. Dennoch entscheidende Minuten.
Er wachte so plötzlich auf, wie er eingeschlafen war.
Er wusste nicht, ob es das Geräusch der leise schlagenden Segel gewesen war, das ihn geweckt hatte, oder das Schlagen der Großschot - wahrscheinlich keines von beiden, sondern ein eigentümliches, lautes Geräusch, das an einen riesigen Hammer erinnerte, der krachend auf eine Stahlplatte schlug.
Er blickte auf, sah, dass die Genua nur noch von der Dünung des Atlantiks bewegt wurde. Der Wind war völlig abgeflaut.
Dieses GeräuschÉ der Hammer, der auf Stahl schlugÉ
Die Lichter, dachte er.
Im selben Moment sah er sie wieder, es waren nur noch drei Lichter, ein rotes, ein grünes und darüber ein weißes, und sie waren höchstens noch eine halbe Seemeile von der Dandelion entfernt. Sie bewegten sich direkt auf sie zu.
Er sprang auf, und es schoss ihm durch den Kopf: Verdammt noch mal, sehen die uns denn nicht?

E
r hastete zum Steuerrad, schaltete den Autopiloten aus. Er musste sofort den Motor starten und die Dandelion, so rasch er konnte, wenigstens hundert Meter weiter nach Backbord steuern, andernfalls würde es zur Kollision kommen. Verflucht, er hätte nicht einschlafen dürfen. Die See war in dieser Gegend viel zu dicht befahren, um sich mitten in der Nacht auf Wache ein kurzes Nickerchen leisten zu können.
Warum sprang der Motor nicht an? Nicht einmal der Anlasser drehte sich. Er versuchte es noch einmalÉ und noch einmalÉ Nichts geschah.
Wie die Front eines Hochhauses baute sich der Bug eines großen Schiffes vor ihm auf, um ein Vielfaches größer als die Dandelion, und er näherte sich in erschreckend schneller Fahrt. Das Schiff hielt direkt auf das Segelboot zu, das plötzlich zur Nussschale schrumpfte, und es war klar, dass ein Zusammenstoß nicht zu überstehen war, dass von der Dandelion in zwei oder drei Minuten nur noch ein Haufen Schrott übrig sein würde.
Im Niedergang tauchte Livias Kopf auf. Er sah wirre Haare, angstvoll weit aufgerissene Augen. Die Motorengeräusche des riesigen Frachters veranstalteten inzwischen einen höllischen Lärm.
»Nathan!«, schrie sie, blieb aber bewegungslos stehen und starrte auf das immer näher kommende Unheil. Mit einer einzigen Bewegung riss er die Rettungsinsel unter dem Steuersitz hervor.
»Runter vom Schiff!«, brüllte er. »Hörst du nicht, sofort runter vom Schiff!«
Livia rührte sich nicht.
»Spring!«, schrie er, und als sie zögerte, packte er sie an den Armen, zerrte sie die Stufen hinauf und stieß sie mit aller Kraft über Bord. Schleuderte die Rettungsinsel hinterher und sprang dann, in der letzten Sekunde, selbst.

D
as Wasser war eiskalt, empfing ihn mit grausam schmerzenden Nadelstichen. Ganz kurz dachte er, sein Herz werde aussetzen vor Kälte, aber dann merkte er, dass er lebte, dass sein Herz also offensichtlich schlug. Prustend und keuchend tauchte er wieder aus den Wellen auf. Zum Glück trug er, wie stets an Bord, seine Schwimmweste.
Das Geräusch des auf Stahl schlagenden Hammers war nun genau über ihm. Eine riesige Welle erfasste ihn, schleuderte ihn mehrere Meter weit zur Seite. Die stählerne Wand des Schiffes, fast zum Greifen nah, zog wie in Zeitlupe an ihm vorbei.
Die Dandelion wurde vom Bug des Frachters frontal getroffen und sofort unter Wasser gedrückt.

I
hm kamen die Tränen - ihm! Er weinte nie. Er hätte nicht gedacht, dass er noch einmal weinen würde. Zuletzt war es ihm als kleinem Jungen passiert, als sie den Sarg mit seiner Mutter darin an ihm vorbeitrugen. Seitdem nicht ein einziges Mal. Aber diese Hinrichtung zu erleben war zu schlimm, vielleicht war es auch zu schnell gegangen, eben hatte er noch in der Steuerkajüte gesessen und geträumt und ein paar unverzeihliche Minuten lang geschlafen, und jetzt trieb er im kalten Wasser des Nordmeers, und vor seinen Augen wurde vernichtet, woran sein Herz hing. Und was seine Existenz war.
Die Rettungsinsel, die sich im Wasser entfaltet hatte, musste ebenfalls von der Bugwelle des Frachters erwischt worden sein. Im Schraubenwasser des Schiffs drehte sie sich mit aufgerissener Plane einige Meter von ihm entfernt. Daneben konnte er Livia erkennen. Sie war direkt aus ihrem Bett gekommen, trug daher keine Schwimmweste. Er rief nach ihr, aber sie reagierte nicht. Mit ein paar kräftigen Schwimmstößen war er neben ihr.
»Schwimm, Livia«, drängte er, »los, schwimm endlich! Wir müssen in die Rettungsinsel!«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.01.2007