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Die Dicke legte ihr die Hand auf den Arm. Ihr Mitleid schien sehr aufrichtig. »Trotzdem. Sie gehen jetzt zur Badeaufsicht. Dort wird man wissen, was als Nächstes zu tun ist. Vielleicht kann man Ihre Tochter auch ausrufen. Es ist bestimmt nicht das erste Mal, dass ein Kind und seine Eltern sich hier in diesem Gewühl verlieren. Lassen Sie nicht den Kopf hängen!«
Die freundlichen Worte der anderen ließen LizĂ• Selbstbeherrschung endgültig zusammenbrechen. Sie schluchzte nun haltlos, ließ sich in den Sand fallen, krümmte sich nach vorn und konnte kein Wort mehr hervorbringen. Für den Moment hatte sie jegliche Energie verlassen.
Die dicke Frau seufzte, beugte sich zu ihr und nahm ihre Hand. »Kommen Sie. Ich begleite Sie. Elli kann auf meine Kinder aufpassen. Sie sind ja völlig fertig. Jetzt geben Sie doch nicht alle Hoffnung auf!«
Willenlos ließ sich Liz mitziehen.
Sie hatte in diesem Moment das nicht erklärbare Gefühl, dass sie Sarah nicht wiedersehen würde.


Mittwoch, 16. August
Als er ihr sagte, dass sie am nächsten Tag mit ablaufendem Wasser ablegen und weitersegeln würden, wusste sie nicht, ob sie sich freuen oder traurig sein sollte. Die Hebriden waren nicht der Ort, an dem sie noch wochenlang hätte verweilen wollen, das Klima machte ihr zu schaffen, und ihr fehlten die Farben des Sommers. Selbst der August war hier auf der Isle of Skye ziemlich kühl und windig, es regnete häufig, und dann verschmolzen Meer und Himmel in einem bleiernen Grau, und die Gischt, die bei Sturm an der Hafenmauer von Portree emporschwappte und in der Luft zersprühte, hinterließ einen kalten Hauch auf den Lippen. Irgendwo war es Sommer, gab es einen satten, behäbigen August mit reifem Obst, warmen Nächten, Sternschnuppen und späten Rosen. Sie musste immer an das Gefühl von warmem Gras unter nackten Füßen denken. Manchmal trieb ihr die Sehnsucht danach die Tränen in die Augen.

W
eitersegeln hieß, irgendwann in wärmere Gefilde zu kommen. Sie wollten hinunter zu den Kanaren, dort Proviant fassen und anschließend die Überquerung des Atlantiks in Angriff nehmen. Nathan plante, den Winter in der Karibik zu verbringen, und dass er nun zum Aufbruch drängte, hing damit zusammen, dass er dort vor Beginn der Hurrikan-Saison eintreffen wollte. Sie hingegen hatte Angst, Europa zu verlassen, schauderte vor der Aussicht, tage- und wochenlang auf dem Atlantik herumzutreiben. Die Karibik erschien ihr als fremde, ferne Welt, die ihr eine undefinierbare Furcht einflößte. Sie hätte gern auf den Kanalinseln überwintert, auf Jersey oder Guernsey, aber Nathan hatte erklärt, die Winter dort seien zwar mild, aber auch sehr nass. Ein Schiff war nicht der komfortabelste Ort bei tagelangem Regen und bei undurchdringlichem Nebel, der vom Wasser aufstieg und die Sicht so verhüllte, dass man vom einen Ende des Schiffes nicht bis zum anderen blicken konnte.

S
ie hatten eine knappe Woche auf Skye verbracht, und sie hatte gerade begonnen, sich trotz des schlechten Wetters ein wenig an die Insel zu gewöhnen. Das war es, was sie traurig machte beim Gedanken an die Abreise. Was sie betraf, krankte dieses ganze Projekt der Weltumsegelung an ihrem Bedürfnis nach einem sicheren Zuhause, einem unverrückbaren Lebensmittelpunkt. Sie sehnte sich danach, täglich in demselben Supermarkt einzukaufen, vertraute Spazierwege zu haben, geselligen Umgang mit immer denselben Freunden und Bekannten zu pflegen. Sie wollte morgens ihre Brötchen bei einem Bäcker holen, der sie fragte, ob ihre Erkältung besser geworden sei, und sie wollte zu einem Friseur gehen, zu dem sie nur sagen musste: »Wie immer, bitte.« Das Gleichmaß der Dinge war ihr wichtig. Seitdem sie es verloren hatte, war ihr bewusst geworden, wie sehr.
Da sie nicht den ganzen Tag auf der in der Bucht von Portree ankernden Dandelion verbringen konnte, hatte sie in den sechs Tagen ein wenig gejobbt. Eigentlich hatten sie und Nathan vereinbart, dass jeder von ihnen versuchen würde, in den jeweiligen Häfen eine Arbeit zu finden, denn in ihrer Reisekasse herrschte chronische Ebbe. Alles, was sie besaßen, hatte Nathan in den Kauf des Schiffes gesteckt. Aber aus irgendeinem Grund schien Nathan von der Dringlichkeit des Geldverdienens nicht überzeugt zu sein.
»Skye bedeutet eine ungeheure Inspiration für mich«, hatte er erklärt, »die muss ich nutzen!«

D
as Wetter, so hatte er behauptet, sei genau das, was er suchte. Vier bis fünf Windstärken aus Nordwest, Wolken, die über die Berge der Insel jagten. Regen, der auf das Ölzeug prasselte, das er trug. Jeden Tag hatte er sie mit dem Beiboot an Land gerudert, war dann selbst wieder zum Schiff zurückgekehrt, hatte die Insel halb umrundet und sich in seine Lieblingsbucht bei Loch Harport verzogen. Was er dort über Stunden tat, wusste sie nicht. Einmal, als es nicht regnete, war er in den Black Cuillins herumgeklettert, wie er erzählte. Ansonsten gab er, wie üblich, nichts von sich preis.
Und manchmal, wenn sie am späten Nachmittag mit dem Bus nach Portree zurückkehrte, fragte sie sich, ob sie ihn vorfinden würde. Oder ob er einfach davongesegelt war, für immer, ohne sie. Sie wusste nie genau, ob sie diese Vorstellung erschreckte oder ob irgendetwas in ihr fast wünschte, es möge passieren.

S
ie hatte einen Job im Ferienhaus einer englischen Familie gefunden, in Dunvegan, ein ganzes Stück von der Inselhauptstadt Portree entfernt, aber mit dem Bus recht gut zu erreichen. Die Familie hatte einen Zettel im Gemischtwarenladen am Hafen ausgehängt, auf dem sie für die Dauer ihres Ferienaufenthalts eine Hilfe für Haus und Garten suchte, da ihre gewohnte Zugehfrau erkrankt war. Sie hatte sich sofort gemeldet. Nathan war dagegen gewesen, denn er meinte, der Job einer Putzfrau sei nun wirklich unter ihrem Niveau, aber da ihm auch nichts besseres einfiel, wie sie zu Geld kommen sollten, hatte er schließlich zugestimmt.

D
as Haus, etwas außerhalb von Dunvegan mit einem herrlichen Blick über die Bucht gelegen, war geräumig und gemütlich, und sie hatte sich dort recht wohlgefühlt. Nette Menschen, mit denen man plaudern konnte, leichte Arbeit, auch im Garten, der sehr groß war und ihr gut gefiel. Das Wetter war wirklich schlecht gewesen - es regnete in diesem Sommer hier oben ganz besonders viel, wie die Einheimischen betonten -, und sie hatte die ganze Zeit über nicht recht verstehen können, weshalb man seine Ferien in diesem Teil der Erde verbrachte, aber sie hatte sofort gemerkt, dass es für sie einen Unterschied machte, festen Boden unter den Füßen zu haben, einen Garten, der von einer Mauer begrenzt wurde, einen Kamin, eine Ordnung in allen Dingen. Sie ging gern in das Haus, staubte die Fensterbretter ab, schrubbte die Steinfliesen in der Küche, bis sie glänzten, stellte frische Blumen in eine Vase auf den großen Holztisch im Wohnzimmer. In einer Regenpause pflanzte sie Efeu an der Südseite des Hauses und mähte im hinteren Teil des Gartens den Rasen. Es ging ihr besser als in all der Zeit zuvor.

B
is zum Spätnachmittag, wenn sie zurückkehrte auf das Schiff. Es war das Schiff. Es waren nicht die Hebriden, nicht die Kanalinseln. Es würde auch nicht besser werden in der Südsee an weißen Sandstränden unter Palmen. Sie war nicht für das Nomadenleben geboren. Sie hasste Häfen. Sie hasste schwankende Bohlen unter den Füßen. Sie hasste die ewige Feuchtigkeit. Die Enge. Sie hasste es, kein Zuhause zu haben.
Morgen würden sie auslaufen.
Donnerstag, 17. August
N
athan hatte es sich im Cockpit der Dandelion gemütlich gemacht, eng an die Wand der Kajüte geschmiegt. Halb zehn Uhr am Abend. Die teure Thermounterwäsche, die er trug, bewährte sich hier oben im Norden - selbst im August. Die kühle nächtliche Seeluft spürte er nur an der Nasenspitze und auf den Wangen. Nachdem sein Ärger abgeflaut war, begann er sich nun ein wenig besser zu fühlen.
Er war wütend auf Livia gewesen und, was noch schlimmer wog, wütend auf sich selbst, weil er ihr wieder einmal nachgegeben hatte. Er gab oft nach, einfach nur um sich ihre tränenreichen Monologe zu ersparen. Er hatte vorgehabt, am frühen Morgen um sechs Uhr, eine Stunde nach Hochwasser, aus dem Hafen von Portree auszulaufen, um die Passage des Sound of Harris auf jeden Fall bei Tageslicht zu segeln. Livia, die, seitdem sie auf Skye angelegt hatten, über das schlechte Wetter auf der Insel jammerte, hatte nun begonnen, mit der gleichen Intensität über die Abreise zu klagen, obwohl diese ihr eigentlich hätte gelegen kommen müssen. Nathan vermutete oft, dass es ihr einfach nur um das Lamentieren ging. Sie war nicht zufrieden, wenn sie sich nicht über irgendetwas beschweren konnte.

S
chließlich hatte sie behauptet, sie habe den Leuten in Dunvegan, bei denen sie seit einer Woche putzte, versprochen, noch einmal zu erscheinen, und sie könne nun unmöglich einfach verschwinden. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 04.01.2007