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Wenn ich mich beeile, dachte Liz, dann bin ich gleich wieder zurück, und sie merkt überhaupt nichts. So tief, wie sie schläftÉ
Es waren so viele Menschen ringsum; was sollte passieren? Selbst wenn Sarah aufwachte und zum Wasser ging, konnte sie kaum unter den Augen so vieler Leute ertrinken.
Ich bin ja in spätestens zehn Minuten zurück, dachte Liz und lief los.
Die Strecke war länger, als sie gedachte hatte, offenbar waren sie und Sarah am Morgen doch ein ganzes Stück den Strand entlanggelaufen. Aber es war schön, sich zu bewegen, und sie registrierte genau, dass ihr viele Männerblicke folgten. Sie hatte eben eine tolle Figur, trotz der Geburt des Kindes, und der Bikini war einfach perfekt für sie, das hatte sie schon im Geschäft gleich gemerkt. Niemand, der sie so sah, konnte ahnen, dass es ein schreiendes Anhängsel in ihrem Leben gab. Sie war einfach eine junge Frau, dreiundzwanzig Jahre alt, attraktiv und begehrenswert. Sie versuchte, optimistisch und fröhlich dreinzublicken. Seit sie wegen Sarah so viel weinte, hatte sie ständig Angst, Tränensäcke und hängende Mundwinkel zu bekommen. Sie musste unbedingt aufpassen, dass man ihr nicht ansah, wie unglücklich sie oft war.

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n dem Imbissstand hatte sie Pech: Eine Handballmannschaft drängelte sich dort, und die meisten der jungen Männer waren sich noch nicht im klaren, was sie eigentlich bestellen wollten, und überlegten lautstark hin und her. Ein paar von ihnen flirteten heftig mit Liz, worauf diese voller Freude und mit der Schlagfertigkeit, für die sie bekannt war, einging. Wie herrlich war es, zwischen attraktiven, sonnengebräunten Männern zu stehen und zu spüren, welche Anziehungskraft man auf sie ausübte. Sie überlegte gerade fieberhaft, wie sie das Problem Sarah lösen sollte, falls sich einer der Jungs mit ihr verabreden wollte, da beendete der Trainer der Mannschaft das Geturtel und scheuchte seine Truppe weiter. Liz stand innerhalb von Sekunden allein vor der Imbissbude und konnte endlich ihre Baguettes und ihre Cola kaufen.

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ls sie sich auf den Rückweg machte, stellte sie fest, dass fünfundzwanzig Minuten seit ihrem Aufbruch vergangen waren. Mist. Bis sie zurückkehrte, würde es mehr als eine halbe Stunde sein. So lange hatte sie keinesfalls fort sein wollen. Sie betete, dass Sarah nicht aufgewacht war und heulend zwischen den fremden Menschen herumirrte. Sie konnte sich die vorwurfsvollen Blicke der anderen vorstellen. Natürlich, eine gute Mutter tat so etwas nicht, ließ ihr Kind nicht unbeaufsichtigt zurück, um sich selbst irgendwelche Wünsche zu erfüllen. Eine gute Mutter hatte überhaupt keine Wünsche mehr. Sie lebte ausschließlich für ihr Kind und dessen Wohlergehen.
Scheiße, dachte Liz, die haben ja alle überhaupt keine Ahnung!

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etzt schlenderte sie nicht mehr unter bewundernden Männerblicken dahin, jetzt rannte sie. Die Cola schwappte in der Flasche, die Brötchen hielt sie fest an sich gedrückt. Sie keuchte und bekam Seitenstechen. Es war anstrengend, im Sand zu laufen. Wieder und wieder fragte sie sich, wie sie sich in der Länge des Wegs so hatte verschätzen können!
Da war ihr Badetuch. Ihre Tasche. Die Schaufel. Die Burg, die Sarah gebaut hatte. Sarahs Badetuch, das hellblaue mit den gelben Schmetterlingen darauf.
Aber keine Sarah.
Liz blieb schwer atmend stehen, krümmte sich für einen Moment unter ihrem Seitenstechen zusammen, richtete sich aber sofort wieder auf und sah sich hektisch um. Hier hatte sie doch gelegen, fest schlafend, eben noch.
Nicht eben. Vor etwa vierzig Minuten.
Vierzig Minuten!
Natürlich konnte sie nicht weit sein. Sie war aufgewacht, hatte Angst bekommen, weil Mama nicht da war, und lief jetzt irgendwo im näheren Umkreis umher. Wenn es nur nicht so voll wäre. Es wimmelte von Menschen, es schienen mit jeder Minute mehr zu werden. Wie sollte sie ein so kleines Kind zwischen den vielen Beinen entdecken?
Sie legte die Brötchen und die Flasche auf ihr Badetuch, den Geldbeutel behielt sie in der Hand. Sie hatte nicht den geringsten Hunger mehr, im Gegenteil, ihr war übel, und sie konnte sich nicht vorstellen, einen einzigen Bissen herunterzubringen.
Wo, verdammt, war die Kleine?

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n ihrer Not wandte sie sich an eine Frau, die gleich neben ihr lag, ziemlich dick war und vier Kinder hatte, die um sie herum krakeelten.
»Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht meine Tochter gesehen? So groß etwa«, sie deutete mit der Hand Sarahs Größe an, »dunkle Haare, dunkle AugenÉ Sie trägt blaue Shorts und ein gestreiftes T-ShirtÉ«
Die Dicke starrte sie an. »Das Kind, das hier geschlafen hat?«
»Ja. Ja, genau. Sie schlief tief und fest, und ichÉ ich habe nur ganz schnell etwas zu essen besorgt, und jetzt komme ich wieder, undÉ«
Es war offensichtlich, dass die Dicke ihr Verhalten missbilligte. »Sie haben die Kleine allein gelassen und sind bis nach vorn zu den Buden gelaufen?«
»Ich war ja sofort wieder da«, log Liz. Vierzig Minuten!, hämmerte es in ihrem Kopf.
»Zuletzt habe ich sie gesehen, wie sie da schlief. Dann habe ich nicht mehr auf sie geachtet, weil meinem Denis schlecht wurde. Zu viel Sonne.«
Denis kauerte im Sand und sah in der Tat bleich und jämmerlich aus. Aber er war wenigstens da.
»Sie kann ja nicht weit sein«, sagte Liz, um sich selber Mut zuzusprechen.

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ie Dicke wandte sich an eine Bekannte, die ein Handtuch weiter im Sand saß. »Hast du die kleine Dunkelhaarige gesehen, die hier schlief? Die Mutter war vorn bei den Buden, und nun ist das Kind verschwunden!«
Natürlich musste auch die Bekannte ihrer Empörung über LizÕ Fehlverhalten Ausdruck verleihen. »Bis da vorn? Also, so lange würde ich mein Kind nicht allein lassen!«
Blöde Kuh, dachte Liz inbrünstig.
Tatsächlich hatte einfach niemand auf Sarah geachtet. Die Dicke nicht, ihre Bekannte nicht, und auch sonst niemand von den Leuten ringsum, die Liz in steigender Panik und Verzweiflung fragte. Sie zog immer größere Kreise, und es wurde immer unwahrscheinlicher, dass sie auf jemanden stieß, der ihr etwas über den Verbleib der Kleinen sagen konnte. Sie lief ans Wasser hinunter, aber auch dort fand sich keine Spur von Sarah.
Sie konnte nicht ertrunken sein. Vor den Augen so vieler Menschen ertrank kein Kind.
Oder doch?
Noch einmal keimte Hoffnung in ihr, als ihr der Gedanke kam, Sarah könnte sich auf eigene Faust auf den Weg zu dem Karussell mit den Pferden gemacht haben. Schließlich war sie ganz verrückt danach gewesen. Also lief sie erneut den Weg bis zur Bushaltestelle und sah tatsächlich etliche Kinder am Karussell, aber Sarah war nicht darunter. Sie fragte den Besitzer. »Sie fällt auf. Sie hat lange schwarze Haare, sehr dunkle Augen. Sie trägt blaue Shorts und ein gestreiftes T-Shirt!«
Der Besitzer des Karussells dachte nach. »Nein«, sagte er dann, »nein, ein solches Kind war hier heute nicht. Da bin ich mir ziemlich sicher.«

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ie lief zurück. Unterwegs begann sie zu weinen. Sie war in einen Albtraum geraten. Sie hatte völlig verantwortungslos gehandelt, und nun wurde sie auf bitterste Weise dafür bestraft. Bestraft für alles: für ihre Gedanken an Abtreibung, für ihre zornigen Tränen, als man ihr Sarah nach der Geburt in den Arm gelegt hatte, für die vielen Male, da sie gewünscht hatte, es möge dieses Kind nicht geben, für all ihr Hadern und Fluchen. Für ihren Mangel an mütterlichen Gefühlen.
Sarah war nicht am Strandplatz, als Liz erneut dort ankam. Der Anblick ihres kleinen Badetuchs tat Liz plötzlich so weh, dass die Tränen, die sie gerade mühsam zurückgedrängt hatte, erneut hervorschossen. Neben dem Tuch lag die Papiertüte mit den unseligen Baguettes im Sand, und die Colaflasche. Wie unwichtig diese Dinge waren! Und doch hatte Liz über eine Stunde zuvor einen solchen Heißhunger darauf verspürt, dass sie sich sogar um die Sicherheit ihres Kindes nicht mehr gekümmert hatte.
Die dicke Frau, die noch immer die Stellung hielt, musterte sie nun mitleidig. »Keine Spur?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Liz weinend, »keine Spur.«
»Warum haben Sie mich denn nur nicht gleich angesprochen? Ich hätte doch aufgepasst, während Sie das Essen holten!«
Ja, warum hatte sie das nicht getan? Liz konnte sich selbst nicht verstehen. Was wäre einfacher gewesen, als eine andere Mutter zu bitten, ein Auge auf das schlafende Kind zu halten?
»Ich weiß nicht«, murmelte sie, »ich weiß nichtÉ«
»Sie müssen die Polizei verständigen«, mischte sich die Bekannte der Dicken ein. Sie wirkte durchaus betroffen, aber es war auch spürbar, dass sie diesen Strandtag als unerwartet spannend empfand. »Und die Badeaufsicht. VielleichtÉ« Sie wagte offenbar nicht, den Satz auszusprechen.
Liz blitzte sie böse an. »Wie soll denn ein Kind hier ertrinken? Es sind mindestens hundert Menschen im Wasser! Ich meine, ein schreiendes, strampelndes Kind würde doch irgendjemandem auffallen!«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.01.2007