03.01.2007
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Es waren so viele Menschen ringsum; was sollte passieren? Selbst wenn Sarah aufwachte und zum Wasser ging, konnte sie kaum unter den Augen so vieler Leute ertrinken.
Ich bin ja in spätestens zehn Minuten zurück, dachte Liz und lief los.
Die Strecke war länger, als sie gedachte hatte, offenbar waren sie und Sarah am Morgen doch ein ganzes Stück den Strand entlanggelaufen. Aber es war schön, sich zu bewegen, und sie registrierte genau, dass ihr viele Männerblicke folgten. Sie hatte eben eine tolle Figur, trotz der Geburt des Kindes, und der Bikini war einfach perfekt für sie, das hatte sie schon im Geschäft gleich gemerkt. Niemand, der sie so sah, konnte ahnen, dass es ein schreiendes Anhängsel in ihrem Leben gab. Sie war einfach eine junge Frau, dreiundzwanzig Jahre alt, attraktiv und begehrenswert. Sie versuchte, optimistisch und fröhlich dreinzublicken. Seit sie wegen Sarah so viel weinte, hatte sie ständig Angst, Tränensäcke und hängende Mundwinkel zu bekommen. Sie musste unbedingt aufpassen, dass man ihr nicht ansah, wie unglücklich sie oft war.
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Scheiße, dachte Liz, die haben ja alle überhaupt keine Ahnung!
J
Da war ihr Badetuch. Ihre Tasche. Die Schaufel. Die Burg, die Sarah gebaut hatte. Sarahs Badetuch, das hellblaue mit den gelben Schmetterlingen darauf.
Aber keine Sarah.
Liz blieb schwer atmend stehen, krümmte sich für einen Moment unter ihrem Seitenstechen zusammen, richtete sich aber sofort wieder auf und sah sich hektisch um. Hier hatte sie doch gelegen, fest schlafend, eben noch.
Nicht eben. Vor etwa vierzig Minuten.
Vierzig Minuten!
Natürlich konnte sie nicht weit sein. Sie war aufgewacht, hatte Angst bekommen, weil Mama nicht da war, und lief jetzt irgendwo im näheren Umkreis umher. Wenn es nur nicht so voll wäre. Es wimmelte von Menschen, es schienen mit jeder Minute mehr zu werden. Wie sollte sie ein so kleines Kind zwischen den vielen Beinen entdecken?
Sie legte die Brötchen und die Flasche auf ihr Badetuch, den Geldbeutel behielt sie in der Hand. Sie hatte nicht den geringsten Hunger mehr, im Gegenteil, ihr war übel, und sie konnte sich nicht vorstellen, einen einzigen Bissen herunterzubringen.
Wo, verdammt, war die Kleine?
I
»Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht meine Tochter gesehen? So groß etwa«, sie deutete mit der Hand Sarahs Größe an, »dunkle Haare, dunkle AugenÉ Sie trägt blaue Shorts und ein gestreiftes T-ShirtÉ«
Die Dicke starrte sie an. »Das Kind, das hier geschlafen hat?«
»Ja. Ja, genau. Sie schlief tief und fest, und ichÉ ich habe nur ganz schnell etwas zu essen besorgt, und jetzt komme ich wieder, undÉ«
Es war offensichtlich, dass die Dicke ihr Verhalten missbilligte. »Sie haben die Kleine allein gelassen und sind bis nach vorn zu den Buden gelaufen?«
»Ich war ja sofort wieder da«, log Liz. Vierzig Minuten!, hämmerte es in ihrem Kopf.
»Zuletzt habe ich sie gesehen, wie sie da schlief. Dann habe ich nicht mehr auf sie geachtet, weil meinem Denis schlecht wurde. Zu viel Sonne.«
Denis kauerte im Sand und sah in der Tat bleich und jämmerlich aus. Aber er war wenigstens da.
»Sie kann ja nicht weit sein«, sagte Liz, um sich selber Mut zuzusprechen.
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Natürlich musste auch die Bekannte ihrer Empörung über LizÕ Fehlverhalten Ausdruck verleihen. »Bis da vorn? Also, so lange würde ich mein Kind nicht allein lassen!«
Blöde Kuh, dachte Liz inbrünstig.
Tatsächlich hatte einfach niemand auf Sarah geachtet. Die Dicke nicht, ihre Bekannte nicht, und auch sonst niemand von den Leuten ringsum, die Liz in steigender Panik und Verzweiflung fragte. Sie zog immer größere Kreise, und es wurde immer unwahrscheinlicher, dass sie auf jemanden stieß, der ihr etwas über den Verbleib der Kleinen sagen konnte. Sie lief ans Wasser hinunter, aber auch dort fand sich keine Spur von Sarah.
Sie konnte nicht ertrunken sein. Vor den Augen so vieler Menschen ertrank kein Kind.
Oder doch?
Noch einmal keimte Hoffnung in ihr, als ihr der Gedanke kam, Sarah könnte sich auf eigene Faust auf den Weg zu dem Karussell mit den Pferden gemacht haben. Schließlich war sie ganz verrückt danach gewesen. Also lief sie erneut den Weg bis zur Bushaltestelle und sah tatsächlich etliche Kinder am Karussell, aber Sarah war nicht darunter. Sie fragte den Besitzer. »Sie fällt auf. Sie hat lange schwarze Haare, sehr dunkle Augen. Sie trägt blaue Shorts und ein gestreiftes T-Shirt!«
Der Besitzer des Karussells dachte nach. »Nein«, sagte er dann, »nein, ein solches Kind war hier heute nicht. Da bin ich mir ziemlich sicher.«
S
Sarah war nicht am Strandplatz, als Liz erneut dort ankam. Der Anblick ihres kleinen Badetuchs tat Liz plötzlich so weh, dass die Tränen, die sie gerade mühsam zurückgedrängt hatte, erneut hervorschossen. Neben dem Tuch lag die Papiertüte mit den unseligen Baguettes im Sand, und die Colaflasche. Wie unwichtig diese Dinge waren! Und doch hatte Liz über eine Stunde zuvor einen solchen Heißhunger darauf verspürt, dass sie sich sogar um die Sicherheit ihres Kindes nicht mehr gekümmert hatte.
Die dicke Frau, die noch immer die Stellung hielt, musterte sie nun mitleidig. »Keine Spur?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Liz weinend, »keine Spur.«
»Warum haben Sie mich denn nur nicht gleich angesprochen? Ich hätte doch aufgepasst, während Sie das Essen holten!«
Ja, warum hatte sie das nicht getan? Liz konnte sich selbst nicht verstehen. Was wäre einfacher gewesen, als eine andere Mutter zu bitten, ein Auge auf das schlafende Kind zu halten?
»Ich weiß nicht«, murmelte sie, »ich weiß nichtÉ«
»Sie müssen die Polizei verständigen«, mischte sich die Bekannte der Dicken ein. Sie wirkte durchaus betroffen, aber es war auch spürbar, dass sie diesen Strandtag als unerwartet spannend empfand. »Und die Badeaufsicht. VielleichtÉ« Sie wagte offenbar nicht, den Satz auszusprechen.
Liz blitzte sie böse an. »Wie soll denn ein Kind hier ertrinken? Es sind mindestens hundert Menschen im Wasser! Ich meine, ein schreiendes, strampelndes Kind würde doch irgendjemandem auffallen!«
Artikel vom 03.01.2007