08.01.2007 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Nicht dass Virginia die elegante Wohnung in South Kensington häufig verlassen hatte, um etwas mit ihm zu unternehmen. Er kannte sie nur als einen Menschen, der zum Rückzug neigte, dazu, sich gegen die Außenwelt abzuschirmen. Weniger aus Angst, wie ihm schien. Nach seinem Eindruck hatte es etwas mit der Melancholie zu tun, die fast immer über ihr lag, mal stärker, fast an eine Depression grenzend, dann auch wieder schwächer. Sie hatte diese Krankheit - Frederic bezeichnete es insgeheim als Krankheit - offensichtlich besser im Griff, wenn sie allein war. Dass sie schließlich beschlossen hatte, in das ziemlich düstere, alte Herrenhaus der Quentins in Norfolk umzuziehen, war ihm geradezu folgerichtig erschienen, hatte aber in der speziellen Art von Familienleben resultiert, die sie nun führten.

S
ie hatte ihm gegenüber Platz genommen. Ihre Wangen waren noch rosig von der frischen, kühlen Morgenluft.
»Du erinnerst dich bestimmt an diese junge Frau aus Deutschland, die uns hier in der letzten Woche ein bisschen in Haus und Garten geholfen hat«, sagte sie. »Livia. So hieß sie.«
Er nickte. Er erinnerte sich, auch wenn er schon jetzt das Gesicht dieser Livia kaum wiedererkannt hätte. Eine gänzlich farblose Frau, unauffällig und verhuscht.
»Ja. Ich erinnere mich. Die sind doch jetzt weitergezogen, oder?«
»Am Donnerstagabend wollten sie auslaufen. Und eben habe ich im Radio gehört, dass man ein deutsches Ehepaar aus dem Meer gefischt hat. Sie trieben in einem Rettungsboot, nicht allzu weit von der Küste entfernt. Ihr Schiff ist von einem Frachter gerammt worden und gesunken.«
»Guter Gott. Dann haben sie aber Glück, dass sie mit dem Leben davongekommen sind. Und du meinst, dass es sich um dieseÉ diese Livia handelt?«
»Sie haben im Radio keinen Namen genannt. Aber ich denke, sie könnten es sein. Der Zeitablauf würde stimmen. Und ich habe sonst keine Deutschen auf der Insel getroffen.«
»Das heißt aber noch nichts. Es gibt hier etliche Menschen, die wir nicht treffen.«
»Trotzdem. Ich habe so ein Gefühl. Ich glaube, sie sind es.«
»Na ja - wollten sie nicht die Welt umsegeln? Damit dürfte es ja nun vorbei sein.«
»Livia hatte erzählt, dass sie alles, was sie hatten, verkauft haben für das Schiff. Das bedeutet, sie dürften kaum mehr etwas besitzen als die Kleider, die sie am Leib tragen.«
»Dann waren sie hoffentlich gut versichert. Wenn ein Frachter über das Schiff gerollt ist, dann besteht es nur noch aus Einzelteilen.«
Virginia nickte. »Sie sind in Portree in einem Bed&Breakfast vorläufig untergebracht. Ich dachte, ich schaue mal nach ihnen. Sicher können sie ein wenig Aufmunterung gebrauchen.«

D
ie Leute waren ihm völlig egal, abgesehen davon, dass er nicht begriff, wie man es schön finden konnte, um die Welt zu segeln und monatelang auf einem engen Boot zu hausen, und davon, dass er es dumm fand, allen Besitz zu veräußern, um sich ein Schiff zu kaufen, aber plötzlich beschlich ihn ein mulmiges Gefühl. Es war eine Intuition. Eine Witterung.
»Ich weiß nicht«, meinte er, »vielleicht solltest du sie nicht aufsuchen.«
»Warum nicht?«
»WeilÉ weißt du, vielleicht waren sie nicht versichert, undÉ« Er ließ den Satz in der Schwebe.
Sie sah ihn verständnislos an. »Ja, und?«
»Bei der Versicherung sparen die Leute. Das ist allgemein so. Die Pflichtversicherung, die für die Schäden aufkommt, die sie anderen zufügen, schließen sie natürlich ab, aber dann hoffen sie, dass ihnen selbst nichts passiert, und schenken sich den Rest. Dieses Ehepaar steht jetzt womöglich vor dem totalen Nichts. Vielleicht haben sie keinen einzigen Penny mehr, kein Haus, nichts. Sie werden einen Schadensersatzprozess anstrengen, aberÉ«
»Man weiß offenbar nicht mal den Namen des Frachters«, sagte Virginia, »und auch nicht seine Nationalität.«
Er seufzte. »Siehst du. Noch schlimmer. Die wissen nicht einmal, gegen wen sie klagen können. Also, falls die überhaupt je entschädigt werden, kann das Jahre dauern.«
Virginia begriff immer noch nicht. »Ja, aber weshalb darf ich sie dann nicht besuchen?«
»WeilÉ weil du dann, oder besser gesagt: wir dann womöglich ihr einziger Strohhalm sind. Ehe du dich versiehst, haben wir sie am Hals. Die werden jetzt nach allem und jedem greifen, was Hilfe verspricht.«
»Die haben bestimmt Verwandte, die sich um sie kümmern werden. Drüben in Deutschland. Ich möchte ja Livia nur ein wenig trösten. Ich mochte sie. Und ich hatte den Eindruck, dass sie schon sowieso nicht besonders glücklich ist. Jetzt noch diese GeschichteÉ«
»Sei vorsichtig«, warnte er.
»Morgen reisen wir ohnehin ab.«
»Ja, aber die werden auch nicht hier bleiben.«
»Eben. Sie werden nach Deutschland zurückkehren.«
»Falls sie dort noch irgendeine Bleibe haben. Oder finden.«
Virginia lachte. »Du bist ein so hoffnungsloser Schwarzmaler! Ich denke, es gehört sich einfach, dass ich Livia aufsuche. Vielleicht kann ich ihr auch etwas zum Anziehen von mir mitbringen. Wir haben etwa die gleiche Größe.«
Er würde sie nicht hindern können, das spürte er. Vielleicht stellte er sich auch wirklich gar zu pessimistisch an. Er wusste, dass er eine ausgeprägte Neigung hatte, die Welt schlecht und feindselig zu sehen, ohne sie allerdings deswegen zu fürchten. Er verstand es durchaus, den Stier bei den Hörnern zu packen. Aber dazu musste man auch genau wissen, wo sich die Hörner befanden. Virginia machte sich da womöglich manchmal etwas vor.
Egal. In einem Punkt hatte sie schließlich Recht: Morgen reisten sie ohnehin ab.

2
Es war nicht schwierig, herauszufinden, wo man das deutsche Ehepaar, das von dem großen Unglück heimgesucht worden war, untergebracht hatte. Der Schiffsuntergang war in aller Munde, und jeder wusste über jedes Detail Bescheid.
Sie fragte beim Gemischtwarenhändler am Hafen von Portree, und der konnte ihr auch sofort die gewünschte Auskunft geben.
»Bei den OÕBrians sind sie! Guter Gott, was für ein Pech, oder? Ich meine, es ist schließlich gar nicht so einfach, auf dem Meer mit einem anderen Schiff zu kollidieren. Da muss schon viel zusammengekommen sein. Mrs. OÕBrian war vorhin hier, um einzukaufen, und sie erzählte, die junge Frau stehe völlig unter Schock. Stellen Sie sich mal vor, die besitzt auf der ganzen Welt nichts mehr als ihren Schlafanzug! Ihren Schlafanzug! Das ist doch wirklich verdammt hart!«

V
irginia wusste, dass der Gemischtwarenhändler heute jedem seiner Kunden von diesem bedauernswerten Umstand aus dem Leben der jungen Deutschen erzählen würde, und es war klar, dass auch Mrs. OÕBrian alles, was sie von ihren Gästen mitbekam, gewissenhaft auf der ganzen Insel verbreiten würde. Plötzlich taten ihr die beiden auch noch in anderer Hinsicht als bisher leid. Nicht nur, dass sie etwas Schreckliches erlebt hatten, das ihnen vielleicht für den Rest ihres Lebens Alpträume bescheren würde; sie waren plötzlich völlig ausgeliefert und schutzlos: dem allgemeinen Mitleid ebenso preisgegeben wie der Sensationsgier.
Die OÕBrians wohnten am Rande von Portree, und Virginia hätte sie zu Fuß erreichen können, aber sie hatte plötzlich keine Lust, auf den Straßen anderen Menschen zu begegnen und über die Schiffbrüchigen zu sprechen. Also nahm sie den Wagen. Wenige Minuten später parkte sie vor dem malerischen Backsteinhaus mit der rot lackierten Haustür und den weißen Fensterkreuzen. Mrs. OÕBrian war eine leidenschaftliche Gärtnerin. Selbst unter den schwierigen klimatischen Bedingungen der Hebriden hatte sie es geschafft, einen Neid erregend üppigen Blumengarten vor ihr Haus zu zaubern. Virginia ging zwischen rostfarbenen Astern und leuchtend bunten Gladiolen entlang. Der Herbst kündigte sein Kommen unübersehbar an. Hier oben brach er früh herein. Ende September musste man schon mit den ersten großen Stürmen rechnen, und dann kam der Nebel, der Monate lang über den Inseln liegen würde. Virginia fand diese Stimmung reizvoll, was aber vielleicht daran lag, dass sie nicht hier lebte und den kalten, grauen Winter nicht, so wie die Bewohner der Insel, von Oktober bis April ertragen musste. Ein einziges Mal hatte sie Frederic überreden können, das Weihnachtsfest und den Jahreswechsel im Ferienhaus zu verbringen, aber er hatte es schrecklich gefunden und sie gebeten, ihm dies nie wieder anzutun.
»Es gibt nicht viel auf dieser Welt, was mich in Depressionen treiben könnte«, hatte er gesagt, »aber dem Winter auf Skye könnte es durchaus gelingen.«
Schade, dachte sie nun, ich würde gern noch einmal im November oder Dezember hierher kommen.

A
uf ihr mehrfaches Klopfen an der Tür reagierte niemand, und so öffnete sie sich schließlich selbst und trat in den schmalen Hausflur. Dies war auf der Insel durchaus üblich. Niemand schloss seine Türen ab, und wenn ein Besucher nicht gehört wurde, durfte er sich selbst einlassen.


(wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.01.2007