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Der hatte aber absolut keinen Bock auf sein Kind. Dem hätte ich Geld anbieten können, und er hätte sich nicht um Sarah gekümmert!«
Mike wurde dennoch überprüft, hatte jedoch für die fraglichen Stunden ein unbestreitbares Alibi: Er hatte auf einer Polizeiwache gesessen, weil er mit einem enorm hohen Promillewert im Blut aus dem Straßenverkehr gezogen worden war. Das Gespräch mit ihm bestätigte zudem das Bild, das Liz von ihm gezeichnet hatte. Mike Rapling hatte seine Energien ausschließlich darauf gerichtet zu vermeiden, die kleine Sarah »aufs Auge gedrückt« zu bekommen, wie er es nannte. Eine Entführung des Kindes wäre ihm nicht in den Sinn gekommen.
»Liz hätte mir die Kleine mit dem größten Vergnügen für immer überlassen«, hatte er erklärt, »aber ich bin doch nicht blöd, Mann! Ich hab Sarah nicht mal für eine Stunde übernommen, solche Angst hatte ich, dass Liz sie dann nicht mehr abholt!«
Mit jedem Gespräch, das Liz mit den Polizeibeamten führte, konnte sie spüren, wie die Abneigung der Ermittler gegen sie stieg. Das Bild, das von der kleinen Sarah entstand, war nur allzu deutlich und grausam: Es war das eines Kindes, das von niemandem gewollt wurde, das von der ersten Minute seines Lebens an von jedem Menschen in seiner Umgebung abgelehnt worden war. Von seiner Mutter, seinem Vater, seiner Großmutter. Ein Kind, das jedem im Weg gewesen war, für dessen Wohlergehen sich niemand wirklich verantwortlich fühlte.
Die haben ja alle keine Ahnung, dachte Liz.

E
s waren zwei Wochen seit Sarahs Verschwinden vergangen, und Liz hatte in der Zeit fünf Kilo an Gewicht verloren und kaum eine Nacht geschlafen. Sie quälte sich mit Selbstvorwürfen und fragte sich, wo ihr Kind sich aufhalten mochte und ob es vielleicht voller Angst und Verzweiflung nach ihr suchte. Wie oft hatte sie Sarah zum Teufel gewünscht, und nun war sie wirklich verschwunden! War das die Strafe für ihre bösen Gedanken, für die vielen Male, da sie Sarah ungerechtfertigt angeschrien und beschimpft hatte?

W
enn sie wiederkommt, schwor sie sich, werde ich alles anders machen. Ich werde nett zu ihr sein. Ich werde ihr hübsche Kleider kaufen. Ich werde mit ihr nach Hunstanton fahren, und sie darf ganz viele Runden auf dem Karussell drehen. Ich werde sie nie mehr unbeaufsichtigt lassen!
Am vierten Tag nach Sarahs Verschwinden hatte sie Mike angerufen, weil sie glaubte, verrückt zu werden, wenn sie nicht endlich von irgendeinem Menschen etwas Tröstliches zu der ganzen Situation hörte. Von ihrer Mutter war dergleichen nicht zu erwarten: Die zeterte nur herum und erklärte, das alles habe ja kein gutes Ende nehmen können, wobei unklar blieb, was sie mit das alles meinte.
Zu LizÕ Erstaunen war Mike sofort am Apparat gewesen. »Ja?«
»Ich bin es, Liz. Ich wollte nurÉ es geht mir gar nicht gut, weißt du.«
»Was Neues von Sarah?«, fragte Mike und gähnte unverhohlen. Es war halb zwölf am Vormittag, dennoch kam er offenbar gerade erst aus dem Bett.
»Nein. Nichts. Es gibt keine Spur. Und ichÉ Mike, ich kann überhaupt nicht mehr schlafen und nicht mehr essen. Mir gehtÕs echt beschissen. Meinst du nicht, wir könnten uns mal sehen?«
»Was soll das bringen?«, fragte Mike.
»Ich weiß nicht, aberÉ oh, Mike, bitte, hast du nicht ein bisschen Zeit? Bitte?«
Er hatte sich schließlich überreden lassen, mit ihr nach Hunstanton hinauszufahren und dort spazieren zu gehen, wobei er gleich darauf hinwies, dass er wegen seiner Alkoholeskapaden am Tag von Sarahs Verschwinden nicht mehr über seinen Führerschein verfügte und sie daher nicht mit dem Auto fahren konnten. Also nahmen sie den Bus, dieselbe Linie, mit der Liz wenige Tage zuvor in Begleitung ihrer kleinen Tochter ans Meer gefahren war. Sie hatte Mike lange nicht gesehen, und es berührte sie eigenartig, die große Ähnlichkeit zwischen ihm und Sarah zu erkennen. Früher hatte sie gar nicht so darauf geachtet, aber nun wurde ihr bewusst, dass Sarah ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war. Zwar hatte sie die dunklen Haare und Augen ihrer Mutter, aber Nase, Mund, Lächeln - all das fand sich bei Mike wieder. Seine Verwahrlosung schritt jedoch deutlich voran. Er war nicht mehr der hübsche Junge, in den sie sich verliebt und mit dem sie in einem leichtsinnigen Moment ein Kind gezeugt hatte. Seine Haare waren zu lang und sehr ungepflegt, er hatte sich offenbar seit Tagen nicht rasiert, und die Verdickungen unter seinen Augen wiesen darauf hin, dass der Alkohol ihm längst zum ständigen Lebensbegleiter geworden war.
Er hätte nie für Sarah und mich sorgen können, hatte sie gedacht.
Es war ein kühler, windiger Tag gewesen, und es hielten sich nur wenige Menschen am Strand auf. Liz musste mit den Tränen kämpfen, als sie aus dem Bus stiegen und vor ihnen das Karussell auftauchte - Sarahs letzter, heißer Wunsch.
»Hätte ich ihr nur ein paar Runden spendiert! Dann hätte ich jetzt wenigstens das Gefühl, dass sie noch etwas Schönes erlebt hat, bevor sieÉ«
»Bevor sie was?«, fragte Mike.
»Bevor sie davongelaufen ist«, antwortete Liz leise. Es war das Einzige, was sie denken und aussprechen konnte: dass Sarah davongelaufen war. Davongelaufen hieß, dass es sich um einen unbedachten Kinderstreich handelte. Sarah war losgetrabt, vielleicht auf der Suche nach ihrer Mum, vielleicht hatte sie auch zu dem Karussell gewollt. Dann hatte sie die Richtung verloren, den Rückweg nicht gefunden, sich gründlich verirrt. Das war schlimm, das war furchtbar, aber irgendwann würde irgendjemandem das umherirrende Kind auffallen, dann würde man die Polizei verständigen, und dann würde Sarah nach Hause gebracht werden, und das Drama wäre vorüber. Davongelaufen hieß: Sie war nicht ertrunken. Sie war nicht entführt worden.
Davongelaufen hieß Hoffnung.
»Also, drei oder vier Runden auf dem Karussell würden jetzt auch nichts ändern«, meinte Mike pragmatisch. Er fischte eine Zigarette aus seiner Jackentasche, schaffte es aber erst nach vielen missglückten Versuchen, sie anzuzünden. Der Wind war zu stark.
Er fluchte. »Scheißidee, ans Meer zu fahren! Es ist immer so blödsinnig kalt in England! Ich überlege, ob ich mich nach Spanien abseile.«
»Und wovon willst du da leben?«
»Irgendeinen Job findet man immer. In Spanien braucht man nicht viele Klamotten, da ist es immer warm. Und zur Not kann man auch mal draußen schlafen. Du, mir ist echt kalt. Entweder wir fahren gleich zurück, oder wir laufen ein Stück.«

L
iz wollte laufen. Sie dachte an die vielen verhängnisvollen Fügungen des Lebens. Hätte sie während Sarahs Ferien keinen Urlaub bekommenÉ Wäre es nicht ein so heißer Tag gewesenÉ Wäre Sarah nicht eingeschlafenÉ
Hätte, wäre, wäre.
»Wenn wir eine richtige Familie gewesen wären«, sagte sie, »von Anfang anÉ dann wäre Sarah noch da!«
»He, Moment mal!«, sagte Mike. Er zog heftig an seiner Zigarette. »Du meinst allen Ernstes, es hätte etwas geändert, wenn wir geheiratet und den ganzen spießbürgerlichen Scheiß von Vater, Mutter, Kind gelebt hätten?«
»Ja.«
»Das ist doch ein riesengroßer Blödsinn! Das sind deine typischen unrealistischen Träumereien! Du hättest ganz genauso mit Sarah am Strand liegen können, ich wäre nicht dabei gewesen, weil ich gearbeitet hätteÉ«
Was nun wirklich ein unrealistischer Gedanke ist, dachte Liz.
»Éund du hättest sie allein gelassen, undÉ Mist! Riesenmist zum Schluss, so oder so!«
Liz blieb stehen. »Hier war es. Schau mal, da ist sogar noch ihre Burg.«
»Wie willst du denn wissen, dass das ihre Burg ist?«
»Ich habe sie schließlich mit ihr gebaut. Und diese Höhle in der Wand, die hat Sarah gegraben. Da hatte sie ihre Sandalen reingelegt. Sie meinte, das wäre ein Geheimfach.« Ihre Stimme zitterte, die Tränen würgten sie. »In der letzten Zeit, weißt duÉ da hatte sie es immer mit Geheimfächern.«
Mike starrte auf die Sandburg, die der Wind mehr und mehr abtrug. Einen Tag noch, und sie würde kaum mehr zu sehen sein. Er warf seine Zigarette in den Sand. »Verdammt«, sagte er leise.

D
ann sprachen sie beide nicht mehr, sondern betrachteten stumm den Ort, von dem ihr Kind verschwunden war, und später einmal wurde es Liz bewusst, dass diese Momente an einem windigen Augusttag in Hunstanton neben jener Nacht ihrer sexuellen Verschmelzung die einzigen Augenblicke wirklicher Nähe zwischen ihr und Mike darstellten. Und immer ging es dabei um Sarah. Beim ersten Mal hatten sie sie gezeugt. Beim zweiten Mal nahmen sie Abschied von ihr.
Heute, zwei Wochen nach Sarahs Verschwinden, fuhr Liz noch einmal allein nach Hunstanton hinaus. Sie lief den ganzen Strand ab in der Hoffnung, wenigstens noch Überreste von der Burg zu finden, die Sarah gebaut hatte. Sie wusste gar nicht, weshalb ihr das plötzlich so wichtig erschien. Die Burg war das letzte Lebenszeichen von Sarah gewesen. Sie war etwas, woran man sich festhalten konnte.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.01.2007