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Wir haben noch nicht allzu viel klären können«, antwortete Nathan, »aber das Wichtigste wäre, die Identität des Frachters, der uns überrollte, herauszufinden. Nur dann haben wir eine vage Hoffnung auf Schadensersatz.«
»Den Frachter zu finden dürfte sich als höchst schwierig erweisen«, meinte Frederic. »Wenn Sie meine Meinung hören wollenÉ« Er zögerte.
»Natürlich würde mich Ihre Meinung interessieren«, sagte Nathan in eisiger Höflichkeit.
»Dann rate ich Ihnen, Ihre Zeit nicht hier auf der Insel zu verschwenden. Es bringt Sie nicht weiter. Es löst keines Ihrer Probleme. Sie sollten so rasch wie möglich nach Deutschland zurückkehren und zusehen, wieder in Ihrem alten Leben Fuß zu fassen. Es muss schließlich noch irgendwelche Verbindungen geben. Zu Ihrem früheren Beruf, beispielsweise. Als was haben Sie gearbeitet?«
Er verhört ihn regelrecht, dachte Virginia mit steigendem Unbehagen.
Sie spürte, dass auch Livia den Atem anhielt.
»Ich bin Schriftsteller«, sagte Nathan.
Frederic wirkte überrascht. »Schriftsteller?«
»Ja. Schriftsteller.«
»Und was haben Sie veröffentlicht?«
So kannst du nicht mit ihm sprechen, dachte Virginia.
»Mr. Quentin«, sagte Nathan, »Ihre Frau war so liebenswürdig, uns eine Unterkunft in diesem Haus anzubieten. Ich kann mich inzwischen allerdings nicht mehr des Eindrucks erwehren, dass dies offenbar ganz und gar nicht in Ihrem Sinn ist. Warum sagen Sie dann nicht einfach, dass wir gehen sollen? Es gibt kaum etwas, das wir packen müssten. In drei Minuten wären wir verschwunden.«
Virginia wusste, dass es Frederic mit jeder Faser danach verlangte, die Fremden wieder loszuwerden, aber dass ihn sein gutes Benehmen daran hindern würde, seine Frau derart bloßzustellen.
»Wenn meine Frau Ihnen eine Unterkunft in diesem Haus angeboten hat«, sagte er, »dann steht Ihnen diese Unterkunft selbstverständlich zu. Bitte betrachten Sie sich als unsere Gäste.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte Nathan.
Wenn Blicke töten könnten, dachte Virginia, wäre keiner von beiden jetzt noch am Leben. Da sie Skye so sehr liebte, hatte sie noch nie zuvor die Abreise von dort herbeigesehnt, sie, im Gegenteil, stets gefürchtet.
Jetzt hoffte sie von ganzem Herzen, die nächsten zwanzig Stunden wären bereits vorüber und sie befänden sich schon auf der Brücke, die nach Lochalsh auf dem Festland führte.


Dienstag, 22. August
L
iz Albys Leben war seit dem Verschwinden ihrer Tochter zum Spießrutenlauf geworden. Jeder in der Nachbarschaft wusste Bescheid, nachdem Sarahs Foto in der Zeitung gewesen war und die Polizei in einem langen Pressebericht um die Mithilfe der Bevölkerung gebeten hatte. Man hatte die Umstände des Verschwindens der Kleinen einigermaßen taktvoll mit einer kurzen Abwesenheit der Mutter beschrieben, aber Liz spürte genau, mit wieviel Verachtung über sie getuschelt wurde. Eine kurze Abwesenheit der Mutter an einem überfüllten Strand war gegenüber einem vierjährigen Kind nicht verzeihbar. Zumal man in LizÕ näherer Umgebung nur zu gut wusste, dass sie ohnehin nicht die fürsorgliche, liebevolle Mutter war, die man dem kleinen Mädchen gewünscht hätte. Die Kleine verbrachte fast den ganzen Tag im Kindergarten, während Liz ihrer Tätigkeit als Verkäuferin in einer Drogerie nachging, aber selbst wenn sie dann am späten Nachmittag mit der Kleinen an der Hand nach Hause zurückkehrte, wirkte sie mürrisch und überdrüssig, so als seien schon bloße zwanzig Minuten mit Sarah eine Zumutung für sie. Oft hatte Liz Bemerkungen aufgeschnappt in der Art: »Wie ungeduldig sie mit dem armen Ding umgeht!« oder »Sie gehört wirklich zu den Frauen, die keine Kinder haben sollten!« Das hatte sie nicht wirklich gekümmert, sie war viel zu sehr mit den Gedanken um ihre missliche Situation beschäftigt gewesen, als dass es sie noch interessiert hätte, was andere davon hielten. Zudem war sie an hochgezogene Augenbrauen und höhnisches Wispern gewöhnt. Schon vor Sarahs Geburt war sie eine häufige Zielscheibe für Tratsch gewesen, wegen der kurzen Röcke, die sie trug, und wegen der auffälligen Art, sich zu schminken.

J
etzt aber, seit dem schrecklichen Tag am Strand, konnte sie plötzlich die Blicke, die ihr folgten, wie glühende Pfeile im Rücken spüren, und die Feindseligkeit der Menschen traf sie mit unerwartet heftigem Schmerz. Mehr als früher senkte man jetzt die Stimme, wenn sie in die Nähe kam, und dennoch schienen die wenigen Satzfetzen, die sie auffing, überlaut in ihren Ohren zu dröhnen.
Das musste irgendwann so kommenÉ Übernahm nie Verantwortung für die arme KleineÉ Schlechteste Mutter, die man sich denken kannÉ Wäre wirklich besser gewesen, das Kind wäre gar nicht zur Welt gekommenÉ
Wie gemein sie doch sind, dachte Liz dann, wie bösartig und gemein! Auch ihnen hätte das passieren können!

E
ine innere Stimme sagte ihr jedoch, dass dies eben nicht jedem passierte. Auch anderer Leute Kinder verschwanden, wurden auf dem Schulweg gekidnappt oder gerieten beim Spielen an irgendwelche gestörten Typen, die um die Spielplätze herumlungerten. Aber zumeist waren das schreckliche Zufälle, furchtbare Schicksalsschläge, aus denen man den Eltern keine Vorwürfe machen konnte, es sei denn, man setzte voraus, dass Kinder rund um die Uhr bewacht werden müssten und nie einen unbeaufsichtigten Schritt tun dürften, was andererseits ein Hineinwachsen in die Selbstständigkeit verhindert hätte. Ein vierjähriges Mädchen jedochÉ ein Strand am MeerÉ eine Mutter, die vierzig Minuten lang nicht bei dem Kind warÉ
Vierzig Minuten.
In den endlosen Gesprächen mit der Polizei hatte Liz immer versucht, sich um diese vierzig Minuten herumzumogeln, aber es ließ sich nicht leugnen, dass der Weg von ihrem Liegeplatz bis zur Imbissbude recht weit war - weiter, als Liz ihn damals zunächst eingeschätzt hatte. Zudem erinnerte sich der Verkäufer, dass die junge Frau, die ihm wegen ihrer Attraktivität aufgefallen war, ziemlich lange auf ihre Baguettes hatte warten müssen, da sich gerade eine größere Sportlergruppe mit Proviant versorgt hatte.
»Die junge Frau war sehr guter Laune«, erinnerte sich der Budeninhaber, »flirtete ganz schön heftig mit den jungen Männern. Ich meine, im Nachhinein wundert mich das schon. Wenn man bedenkt, dass sie ihr Kind allein zurückgelassen hatteÉ Also, da wäre man doch normalerweise etwas nervöser, oder?«
Irgendwie hatte sich jedenfalls das Bild der leichtfertigen, pflichtvergessenen Mutter schließlich auch bei den Polizisten verfestigt.
»Haben Sie Ihre Tochter denn oft allein gelassen?«, hatte einer der ermittelnden Beamten mit unüberhörbarer Verurteilung in der Stimme gefragt.

L
iz hatte mit den Tränen gekämpft. Es war so ungerecht! Natürlich, Sarah war ihr alles andere als willkommen gewesen, und sicher war sie oft ruppig und ungeduldig mit der Kleinen umgegangen. Aber sie hatte sich um sie gekümmert. Sie hatte sie nie vorher unbeaufsichtigt irgendwo abgestellt, und gerade das wurde jetzt von allen offenbar angezweifelt.
Einmal! Ein einziges Mal! Und ausgerechnet da musste sie spurlos verschwinden!
Die Küstenwache hatte die Umgebung abgesucht und nichts gefunden. Es hatte Befragungen unter den Urlaubern am Strand gegeben, aber niemand hatte ein kleines Kind allein am Wasser gesehen. Überhaupt war Sarah offenbar niemandem aufgefallen. Spürhunde durchkämmten tagelang das Gebiet um den Strand, ohne auf eine Spur zu stoßen. Als hätte der Erdboden Sarah verschluckt, einfach so, ohne großes Aufsehen. Als wäre plötzlich das eingetreten, was sich Liz immer insgeheim - und manchmal auch deutlich ausgesprochen - gewünscht hatte: Es gab Sarah nicht mehr.
»Das musste ja irgendwann so kommen«, war Betsy Albys Kommentar zu der Situation gewesen. »Dass du zu blöd bist, ein Kind aufzuziehen, war mir gleich klar. Und jetzt? Jetzt ist der Katzenjammer groß, wie?«

L
iz war nicht dumm, sie begriff durchaus, dass auch sie einen Platz unter den Verdächtigen bei der Polizei einnahm. Niemand sagte das direkt, aber aus der Art mancher Fragen wurde es ihr deutlich. Die wußten längst, wie sie mit ihrem Schicksal, ungewollt Mutter geworden zu sein, gehadert hatte. Und natürlich geriet auch Mike Rapling, der Kindsvater, ins Visier der Polizei.
»Es gibt Väter, die entführen ihre Kinder, weil sie darunter leiden, zu wenig Umgang mit ihnen zu haben«, hatte eine Beamtin gesagt, mit der Liz am zweiten Tag nach Sarahs Verschwinden gesprochen hatte. Da jedoch hatte Liz zum ersten Mal seit dem Unglück - in Gedanken nannte sie es einfach das Unglück, weil das besser klang als mein Versagen - gelacht, wenn es auch kein freudiges Lachen gewesen war.
»Also, das können Sie bei Mike vergessen! Der hat Sarah vielleicht viermal in ihrem Leben gesehen, und das auch nur, weil ich ihm mit ihr die Bude eingerannt habe. Der hätte sie jedes Wochenende haben können, ich habe ihn angefleht darum. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.01.2007