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Sie sah ihn an. »Das sind nette Menschen. Wirklich.«
»Du kennst sie doch gar nicht.«
»Ich habe durchaus ein bisschen Menschenkenntnis.«
Er seufzte. »Das bestreite ich doch auch gar nicht. AberÉ aus ihrer Situation heraus können die sich zu Zecken entwickeln. Egal, wie nett sie sind. Diesen Gedanken solltest du zumindest im Kopf behalten.«
Er hatte den Eindruck, dass auch sie seufzte, eigentlich unhörbar, eher an ihrer Mimik zu erkennen. »Sie ziehen - vielleicht - morgen hier ein. Wir reisen zum selben Zeitpunkt ab. Ich kann einfach das Problem nicht erkennen.«
»Ist das Schiff von den Leuten für immer weg?«, erkundigte sich Kim, die etwas unlustig in ihrem Spinat stocherte.
»Für immer«, sagte Frederic. »Die sind arm wie Kirchenmäuse.«
»Wie Kirchenmäuse?«, wunderte sich Kim.
»Das ist nur so ein Ausdruck«, erklärte Virginia. »Er soll besagen, dass diese Leute nichts mehr haben auf der Welt. Was sie aber nicht zu schlechten Menschen macht.«
»Oh, sie haben aber doch noch etwas«, sagte Frederic spitz, »und zwar eine kostenlose, unbefristete Unterkunft. Ich würde sagen, das ist gar nicht so schlecht!«
»Unbefristet! Wer sagt das denn? Lediglich solange sie hier sein müssen, um ihre Angelegenheiten zu klären, werden sieÉ«
»Virginia«, unterbrach Frederic, »manchmal bist du wirklich ein bisschen naiv. Hast du mit ihnen einen Termin vereinbart, wann sie hier wieder ausziehen müssen? Ihnen ein Datum
genannt?«
»Natürlich nicht. Ich habeÉ«
»Dann ist ihr Aufenthalt in unserem Haus unbefristet. Und was die Klärung ihrer Angelegenheiten betrifft: Da gibt es nichts zu klären. Darin besteht ja ihr Schlamassel. Was das angeht, ist es gleichgültig, ob sie die Insel heute oder morgen oder in drei Monaten verlassen.«
Sie erwiderte nichts. Er fragte sich, ob sie ihn für kaltherzig hielt.
»Im Übrigen«, fügte er hinzu, »habt ihr auch schon das Problem gelöst, wovon sie eigentlich leben wollen? Deine neuen Freunde?«
Ihrer Miene sah er an, dass diese Frage wohl bislang nicht aufgetaucht war.
»Ich meine«, sagte er, »sie haben nun ein Dach über dem Kopf, aber sie müssen ja auch irgendetwas essen oder trinken. Unsere Vorratskammer gibt nicht allzu viel her. Du solltest dich also darauf gefasst machen, dass sie dich um Geld anpumpen werden. Sie haben gar keine andere Möglichkeit.«
»Es wird uns nicht ruinieren, ihnen ein bisschen Geld zu leihen«, sagte Virginia, »ich bin sicher, sie werden alles daransetzen, unsÉ« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Ein Klopfen an der Haustür, nicht fordernd, aber durchaus deutlich, hatte sie unterbrochen.
»Das könnten sie sein«, sagte sie, »sie müssen ja den Schlüssel abholen.«
Frederic legte seine Gabel zur Seite und lehnte sich zurück.
»Irgendwie habe ich keinen Appetit mehr«, sagte er.

E
s waren tatsächlich Nathan und Livia, die vor der Tür standen. Livia sah viel besser aus als am Morgen. Sie trug Jeans und ein Sweatshirt von Virginia und hatte sich die Haare gewaschen und gekämmt. Sie wirkte noch immer verzweifelt, aber nicht mehr so völlig verloren. In der Hand hielt sie die Reisetasche, die Virginia mit Kleidungsstücken vollgepackt hatte.
»Sie sollen das alles behalten«, sagte Virginia, »nicht gleich wieder zurückgeben!«
Livia errötete tief und starrte auf den Boden.
»Es ist uns wirklich sehr unangenehm«, sagte Nathan, »aberÉ nun, wir wollten die Sachen nicht zurückgeben. Wir haben sie mitgebracht, weilÉ Ich meine, wäre es möglich, dass wir heute bereits hier einziehen? Es ist unverschämt von uns, wir zerstören Ihnen womöglich den letzten Ferientag, aber das Problem ist, dass wir Mrs. OÕBrian einfach nicht bezahlen können, und eine weitere Nacht bei ihrÉ« Er sprach nicht weiter, deutete nur mit einem hilflosen Heben der Hände an, dass er keinen anderen Weg sah als den des demütigen Bittens bei Fremden.

V
irginia empfand es beinahe als eine Schicksalsironie, mitzuerleben, wie schnell und präzise all die düsteren Prophezeiungen Frederics eintrafen. Zwar hatte er nicht ausdrücklich davon gesprochen, dass die Fremden früher als geplant einziehen würden, aber er hatte deutlich gemacht, dass er eine rasche Weiterentwicklung der Dinge fürchtete. Nun standen Nathan und Livia mit ihrem wenigen Hab und Gut vor der Tür - und wie hätte sie sie fortschicken sollen?
»Selbstverständlich können Sie heute schon einziehen«, sagte sie, »wie dumm von mir, dass ich nicht gleich daran gedacht habeÉ« Sie hatte natürlich daran gedacht, es Frederics wegen jedoch für besser gehalten, den Einzug der Fremden auf die Zeit nach ihrer eigenen Abreise zu legen.
Nathan schien ihre Gedanken lesen zu können. »Ist denn Ihr Mann auch damit einverstanden?«, fragte er.
»Machen Sie sich da keine Sorgen«, wich sie aus, hatte aber das Gefühl, dass der Fremde längst wusste, dass es von Seiten Mr. Quentins Schwierigkeiten gab.
Livia schien das auch zu spüren und sah aus, als werde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Virginia ergriff ihren Arm und zog sie rasch ins Haus herein.
»Ich zeige Ihnen jetzt erst einmal Ihr Zimmer«, sagte sie.
Es gab ein geräumiges Gästezimmer im ersten Stock, aber es lag gleich neben Frederics und Virginias Schlafzimmer, und auch das Bad musste man sich teilen. Virginia konnte sich Frederics Gemaule nur zu gut vorstellen. Sie fühlte sich, als sei sie unversehens zwischen zwei Mühlsteine geraten.
Nur ein halber Tag und eine Nacht, dachte sie, wäre die Zeit bloß erst vorüber!
Sie merkte, dass sie Kopfschmerzen bekam, als sie hinunterging, um Frederic davon in Kenntnis zu setzen, dass die beiden Fremden soeben im Stockwerk über ihm einzogen. Erwartungsgemäß reagierte er aggressiv.
»Das kann doch nicht wahr sein! Du hast sie wirklich hereingelassen? Und sie nisten sich gerade neben unserem Schlafzimmer ein?«
»Was hätte ich denn tun sollen? Frederic, diese MenschenÉ«

E
r war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. Sie sah, dass er sich bemühte, seine Wut unter Kontrolle zu bekommen. »Diese Menschen gehen uns nichts an! Ich finde es lobenswert, dass du offenbar deinen Hang zum Samaritertum entdeckt hast, aber du siehst jetzt, wohin das führt. Die Dinge entgleiten dir ja bereits. Jedenfalls läuft es schon jetzt nicht mehr nach Plan, und ich kann dir nur vorhersagen, dass es immer schlimmer werden wird!«
»Ich finde, wir sollten nichtÉ«, begann Virginia, führte den Satz aber nicht zu Ende. Denn Nathan betrat, gefolgt von Li-via, das Wohnzimmer.

E
s war von der ersten Sekunde an klar, dass Frederic und Nathan einander nicht leiden konnten, und Virginia hatte dabei den eigenartigen Eindruck, dass dies unabhängig war von der Situation, in die beide Männer geraten waren: die den einen zum Bittsteller und den anderen zum Gönner wider Willen gemacht hatte. Sie hätten einander auch auf einer Party oder bei einem Abendessen vorgestellt werden können, und sie hätten einander auch dort nicht ausstehen können. Vermutlich hätte keiner von ihnen sagen können, weshalb das so war. Es stimmte einfach nicht zwischen ihnen, und unter normalen Umständen wäre jeder nach einem kurzen, kühlen Gruß seines Wegs gezogen. So aber mussten sie sich die Hand reichen und es irgendwie miteinander aushalten.
»Es tut mir sehr leid für Sie, Mr. Moor«, sagte Frederic höflich, »und für Sie natürlich auch, Mrs. Moor.«
»Danke«, flüsterte Livia.
»Eine Verkettung sehr unglücklicher Umstände«, sagte Nathan, »die uns tragischerweise in eine absolute Katastrophe geführt hat. Es ist ein äußerst seltsames Gefühl, plötzlich ohne den geringsten irdischen Besitz auf dieser Welt zu stehen.«
»Um Situationen wie diese zu vermeiden, wurde das Versicherungswesen erfunden«, entgegnete Frederic, immer noch in seiner höflichsten Tonlage, aber sein Ärger war nur allzu deutlich spürbar.
Virginia hielt den Atem an.

I
n Nathans Augen meinte sie kurz aufflackernden Hass zu entdecken, aber er hatte sich unter Kontrolle. »Da haben Sie völlig Recht«, sagte er ebenso höflich wie zuvor Frederic, »und Sie können mir glauben, dass ich es mir bis an mein Lebensende nicht verzeihen werde, an dieser Stelle gespart zu haben. Es war leichtsinnig und verantwortungslos. Ich habe ein solches Unglück nicht einkalkuliert.«
»Dass so etwas geschehen kann, übersteigt jedes normale Vorstellungsvermögen«, sagte Virginia rasch. Sie hoffte, dass Frederic nicht länger auf der Versicherungsfrage herumreiten würde. Nathan Moor konnte es in seiner Situation nicht auf einen Streit ankommen lassen, aber es war unnötig, ihn noch länger zu demütigen. Sie fand, dass er ohnehin gestraft genug war.
»Wie sehen denn Ihre nächsten Schritte aus, Mr. Moor?«, fragte Frederic. »Ich vermute, Sie werden nicht ewig hier auf Skye herumsitzen wollen?«
Der unausgesprochene Nachsatz und sich durchschnorren wollen stand mit schmerzhafter Deutlichkeit im Raum. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 11.01.2007