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Mathias Richling,
Kabarettist, in der
»Scheibenwischer«-TV-Gala

»Auch 2006 hatte wieder eine gefühlte Länge von exakt einem Jahr.«

Leitartikel
Jahreslauf und Jahreswechsel

Nimm dir Zeit - von Zeit zu Zeit


Von Rolf Dressler
Gerade auch die schreibende Zukunft sollte sich genügend Nachdenk-Zeit nehmen, wenn sie über das unerschöpfliche Phänomen Zeit nachsinnt. Der geneigte Leser möge also nach der Lektüre dieses Beitrages beurteilen, ob der Verfasser dem selbstgesetzten Anspruch genügt hat.
Letztlich kann jeder Mensch nur für sich ganz persönlich, ob jung oder alt, kerngesund, kränklich, gebrechlich oder von körperlichen und seelischen Schmerzen gepeinigt, darüber Auskunft geben, wie ihm die zurückliegenden 365 Tage, jeder einzelne und alle in der Summe, erschienen sind.
Den einen, den Glücklichen und Glückseligen vor allem, denen keine Stunde schlägt, kommt es vor, als seien die Tage atemberaubend und sogar berauschend rasch vorübergeflogen. Für die zahl- und namenlosen anderen hingegen, die Einsamen, Bedrückten und Bedrängten, quälten sich selbst die Minuten und Sekunden dahin, als wollten sie überhaupt niemals enden.
Diese Bedauernswerten erreichen mithin wohl nicht einmal die folgenden Worte, die doch eigentlich als Ermutigung gerade auch an der Schwelle zu einem neuen Jahr gedacht sind:
»Die Zukunft hat viele Namen. Für die Zögernden ist sie das Un- erreichbare, für die Furchtsamen das Unbekannte, für die Mutigen aber ist sie die große Chance.«
Die Mühsamen und Beladenen, so ist zu befürchten, werden sich eher noch tiefer hinunterziehen lassen zum Beispiel durch reißerisch-apokalyptische Weltuntergangsschlagzeilen wie unlängst auf dem »Spiegel«-Titelblatt oder die für den 10. Januar, Schlag 22.45 Uhr, im Ersten Fernsehprogramm angesagte Totenglöcklein-»Dokumentation« unter der Alarm-Überschrift »Im Greisenland - von der deutschen Zukunft«. Soll heißen: Zukunft verwirkt, Hoffnung verflogen, alles verloren. Angeblich.
Wäre es da nicht das einzig richtige Gegenmittel, der Welt aufmunternd zuzurufen: Habt keine Angst vor der Zukunft - sie beginnt erst morgen?
»Wie verwalte ich sinnreich meine Millionen?« fragte einst Friedrich von Bodelschwingh und berechnete sodann das Kapital, das uns Menschen mit jedem Lebensjahr geschenkt wird.
Es sind 8760 Stunden oder 525 600 Minuten oder auf den Punkt 31 536 000 Sekunden. Einfach großartig. Mit der Geburt wird sie uns gegeben, die Zeit, lässt uns teilhaben an der Fülle des Lebens, gibt im Übermaß, nimmt aber auch, was uns am meisten bedeutet.
Gönnen wir uns und den Unsrigen also die Zeit und die Muße, nachzudenken, zu lesen, zu träumen, zu lachen, freundlich zu sein, zu lieben und geliebt zu werden. Denn daraus erst erwachsen Kraft, Weisheit, Erfolg und Glück - kurzum, der wahre Reichtum eines Menschenlebens.
Auch wir von der schreibenden Zunft werden als Zeit-Millionäre reich beschenkt. Darauf, dass Journalismus leider stets nur »Literatur in Eile« sei, sollte man sich daher nicht zurückziehen.
Beherzigen wir also Friedrich von Bodelschwinghs Gedanken über die Zeit - wenigstens von Zeit zu Zeit.

Artikel vom 30.12.2006