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Tanja Wellenkrüger zeigt die Karte, mit der die lebhafte deutsch-ukrainische Korrespondenz begann.

Sersch gab sogar seine Stiefel

Freundschaft zu einem sowjetischen Kriegsgefangenen lebt wieder auf

Von Matthias Meyer zur Heyde
und Carsten Borgmeier (Fotos)
Bielefeld (WB). »Nich an denken!« Die einen waren im fremden Land gefangen, während das Hab und Gut der anderen im Feuer der Brandbomben zu Asche zerfiel. Und dennoch arbeiteten Menschen, die laut Anordnung ihrer Regierung Feinde sein sollten, Seite an Seite. Wie? »Nich an denken!«

In allerschönstem Westfälisch tröstete der Chef aus Dalbke den Kriegsgefangenen aus Donezk über die Schrecken des Weltkriegs hinweg: August Wellenkrüger (1897-1982), der an der heutigen B68 (Paderborner Straße) eine Tischlerei aufgebaut hatte, hielt große Stücke auf Sergej Logwinow (Jahrgang 1917). Jetzt besteht wieder ein Kontakt aus der Ukraine ins Ostwestfälische - und jetzt wünschen sich alle, dass an jene fernen Ereignisse gedacht wird.
Drehen wir also die Uhr noch einmal zurück. Herbst 1942.
Unter den Abertausenden Rotarmisten, die sich der Wehrmacht ergeben, ist auch Sergej Logwinow, der in seiner Sommeruniform mit feinsten Lederstiefeln (dazu später mehr) nach Deutschland transportiert wird. Ins furchtbare Lager, ins Stalag 325 VI K, nach Stukenbrock. Doch der damals gerade 25-Jährige hat Glück. Nach wenigen Tagen wird er in eine Unterkunft auf den Dalbker Bauernhof Freitag verlegt: Arbeitseinsatz in der schräg gegenüberliegenden Tischlerei Wellenkrüger.
»Hier wurden damals vor allem Küchenmöbel für die ausgebombten Familien hergestellt«, erzählt Tanja Wellenkrüger, die Enkelin des Firmengründers. Also stellt sich Sergej, den hier alle freundlich »Sersch« rufen, an die Hobelbank - vielleicht an die, mit der sich August Wellenkrüger im Jahr 1922 selbständig machte. Und wenn ihm das Heimweh die Kehle zuschnürte? »Nich an denken!«
Wer gut arbeitet, soll auch gut essen. Bei den Wellenkrügers, Ehrensache, sitzt Sersch mit am Tisch (auch dazu später mehr).
Den Haushalt führt Augusts Ehefrau Alwine, tatkräftig unterstützt von der damals 14-jährigen Leni. »Als die Schulzeit beendet war, seit Ostern 1942, leistete ich mein ÝPflichtjahrÜ ab: kochen, putzen, Gartenarbeit«, erzählt Leni Güldenhaupt geb. Bürmann. »Und weil ich es bei dem Wellenkrügers so gut hatte, hängte ich noch ein zweites Jahr dran.«
Das Handwerkerehepaar hat drei Kinder: Ernst-August (Jahrgang 1927), der später das Geschäft übernehmen wird, Rosemarie, mittlerweile längst verheiratete Quakernack (76), die aber jene Jahre »verpasst«, weil die Sareptaschülerin mit ihren Klassenkameradinnen nach Bünde ausquartiert ist, sowie die mittlerweile verstorbene Ursula. Seit Anfang 1943 (»Stalingrad war schon vorbei«) versorgten die Wellenbkrügers außerdem den von der August-Bebel-Straße 106 wegen der Bombengefahr nach Dalbke kinderlandverschickten Günter Orf (76), der im Frühjahr 1945 (»kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner«) zusammen mit Rosemarie konfirmiert wurde.
»Sersch sprach perfekt Deutsch. Er war ein umgänglicher, humorvoller Mann, handwerklich geschickt und sehr musisch veranlagt«, erinnert sich Orf. »Unglaublich: Er hat in der Gefangenschaft sogar eine Geige gebaut!«
Und wie geht dir Geschichte mit den Stiefeln?
»Die hat mir Sersch geschenkt - einfach so«, sagt Orf. Leider konnte er sich nicht lange daran erfreuen: »Als die US Army kam, bin ich nach Bielefeld geradelt, um zu schauen, was da los war. Am Betheleck standen bewaffnete GIs, umringt von freigelassenen Zwangsarbeiterinnen. Die erkannten sofort, dass meine Stiefel russischer Herkunft waren. Alle meine Proteste nützten nichts: Ich musste sie abgeben, das Rad dazu. Und dann bin ich, ziemlich wütend, auf Socken zurück nach Dalbke gelaufen.«
Da war der gute Sersch schon ein paar Monate fort. »Eines Tages im Herbst 1944 haben sie ihn fortgeschafft«, sagt Rosemarie Quakernack. »Dafür gab es nur einen Grund: Man hatte ihn denunziert.« Wie das? »Weil er, den die Nazis zum Untermenschen erklärt hatten, am selben Tisch mit uns, den sogenannten Ariern, speisen durfte . . .«
Lange hörte man nichts mehr von Sergej Logwinow, aber dann, im Dezember 1990, kam überraschend eine Karte aus dem Donbecken: »Herr Logwinow hat uns herzlich zur friedlichen Wiedervereinigung gratuliert. Das war der Beginn einer zehnjährigen Korrespondenz mit meinem Vater Ernst-August«, berichtet Tanja Wellenkrüger. Der Briefwechsel brach vor sechs Jahren ab, weil man in Dalbke irrtümlich annahm, Logwinow sei gestorben.
Doch als Gerüchte kursierten, dass aus dem Stiftungsfonds für NS-Opfer auch Kriegsgefangene entschädigt würden - was nicht der Fall ist -, gab es wieder ein Lebenszeichen von Sergej Logwinow. Eingebunden in die Arbeit der Berliner Organisation »Kontakte« (KOHTAKTbI), hat sich der heimische Arbeitskreis »Zwangsarbeit in Bielefeld« des Falls angenommen. »Nach Weihnachten reisen zwei von uns nach Donezk«, sagt Wolfgang Herzog vom Arbeitskreis. »Anfang Januar wollen sie mit Antworten auf alle noch offenen Fragen zurück sein.«
Etwas Geld und ein paar andere nützliche Dinge hat Sergej Logwinow bereits erhalten, wofür er sich ganz gerührt bedankte. Und auf seinen ausdrücklichen Wunsch hat Günter Orf dem erklärten Liebhaber der deutschen Literatur einen Band mit Gedichten von Heinrich Heine geschickt.
Keineswegs nur wegen der schönen Stiefel.

Artikel vom 28.12.2006