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Und ob Rachel das konnte. Julia hatte ihr schon viele Geheimnisse anvertraut, und sie hatte sich noch nie verplappert.
»Klar kann ich das«, erwiderte sie.
»Es ist nämlich so, dass ich meinen alten Freund Donald gern überraschen würde«, sagte der Mann. »Er hat keine Ahnung, dass ich wieder in der Gegend bin. Ich war lange in Indien. Kennst du Indien?«

R
achel wusste, dass das ein Land in weiter Ferne war und dass die Menschen, die von dort kamen, eine dunklere Hautfarbe hatten als die Engländer. In ihre Schulklasse gingen zwei indische Mädchen.
»Ich war da noch nicht«, sagte sie.
»Aber es würde dich doch interessieren, Bilder von dort zu sehen, oder? Von den Kindern in ihren Dörfern. Wie sie leben und spielen, und wo sie zur Schule gehen. Na, wäre das nicht spannend?«
»Doch. Ja.«
»Siehst du. Und ich habe ganz viele Dias von Indien. Die würde ich gern in eurem Kindergottesdienst zeigen. Aber ich brauche jemanden, der mir dabei assistiert.«

D
as Wort kannte Rachel nicht. »Was heißt das?«
»Nun, jemanden, der mir hilft, die Kästen mit den Dias hineinzutragen. Die Leinwand aufzuhängen. Glaubst du, dass du das könntest?«

D
as hörte sich genau nach einer Aufgabe an, wie Rachel sie liebte. Sie stellte sich vor, wie Don staunen würde, wenn sie mit seinem alten Freund ankam und dann mit ihm Dias von jenem fernen Land zeigte. Julia würde platzen vor Neid!
»Das könnte ich! Auf jeden Fall! Wo sind denn die Dias?«
»Halt«, bremste der Mann. »Die habe ich noch nicht dabei. Ich wusste ja nicht, dass ich hier eine so begabte, hilfsbereite Person wie dich treffen würde. Ich dachte an den nächsten Sonntag?«

R
achel wurde schwach vor Schreck. Ausgerechnet der nächste Sonntag! Den sie bei ihrer Tante in Downham Market verbringen würdeÉ Und anschließend die Ferien auf JerseyÉ
»Oh, das ist ja furchtbar! Da bin ich nicht hier! Meine ElternÉ«
»Dann muss ich doch versuchen, jemand anderen zu finden«, meinte der Mann.
Das war eine schier unerträgliche Vorstellung.
»Bitte«, flehte Rachel, »können Sie nicht nochÉ«, sie rechnete hastig nach, »Énoch drei Wochen warten? Wir fahren nämlich in die Ferien. Aber wenn wir zurück sind, würde ich auf jeden Fall mitmachen! Ganz sicher!«
»Hm«, überlegte der Mann. »Das dauert aber noch ganz schön lange«, meinte er dann.
»Bitte«, flehte Rachel wieder.
»Glaubst du wirklich, du kannst das Geheimnis so lange für dich behalten?«
»Ganz bestimmt. Ich sage niemandem etwas! Ehrenwort!«
»Du dürftest Donald nichts erzählen, denn den will ich ja überraschen. Und deiner Mum und deinem Dad auch nichts. Meinst du, das geht?«
»Ich sage meiner Mum und meinem Dad sowieso nichts«, behauptete Rachel, »die interessieren sich auch gar nicht für mich.«

D
as stimmte nicht ganz, das wusste sie. Aber seit drei Jahren, seitdem Sue auf der Welt war, die kleine Schwester, die Rachel nie gewollt hatte, war alles anders geworden. Früher war sie der Mittelpunkt der Welt für Mum und Dad gewesen. Jetzt drehte sich alles um den Quälgeist, der ständig beaufsichtigt werden musste.
»Und deiner besten Freundin?«, vergewisserte sich der Mann. »Der sagst du auch nichts?«
»Nein. Ich schwöre es!«
»Gut. Gut, ich glaube dir. Pass auf, wir treffen uns dann am Sonntag in drei Wochen unweit meiner Wohnung. Wir fahren zu mir, und du hilfst mir, die Sachen ins Auto zu laden. Du wohnst in KingÕs Lynn?«
»Ja. Hier in Gaywood.«
»Okay. Dann kennst du sicher den ChapmanÕs Close?«

D
en kannte sie. Ein Neubaugebiet mit noch nicht fertig gestellten Mehrfamilienhäusern. Der ChapmanÕs Close endete in einem Feldweg. Eine ziemlich einsame Gegend. Rachel und Julia fuhren dort manchmal mit ihren Fahrrädern herum.
»Ich weiß, wo das ist«, sagte sie.
»Sonntag in drei Wochen? Um Viertel nach elf?«
»Ja. Ich bin ganz bestimmt da!«
»Allein?«
»Natürlich. Wirklich, Sie können sich auf mich verlassen.«
»Ich weiß«, sagte er und lächelte wieder sein sympathisches Lächeln, »du bist ein großes, vernünftiges Mädchen.«

S
ie verabschiedete sich von ihm und ging dann weiter in Richtung Gemeindehaus. Mit stolzgeschwellter Brust.
Ein großes, vernünftiges Mädchen.
Noch drei lange Wochen. Sie konnte es kaum abwarten.
Montag, 7. August

A
m Montag, den 7. August, verschwand Liz Albys einziges Kind.
Es war ein wolkenloser Sommertag, so heiß, dass man hätte meinen können, man sei in Italien oder Spanien, aber keinesfalls in England. Obwohl sich Liz schon immer über die abfälligen Bemerkungen, das englische Wetter betreffend, geärgert hatte. So schlecht war es nämlich gar nicht, die Leute klebten einfach nur an ihren Klischeevorstellungen. Zumindest war es eine Frage der Region. Der Westen, der die Wolken abbekam, die Tausende von Kilometern über den Atlantik herangezogen waren, war zweifellos recht feucht, und auch oben in Yorkshire und Northumberland regnete es oft.

Aber unten in Kent klagten die Bauern in vielen Sommern über Dürre und Trockenheit, und auch in LizÕ Heimat, in East Anglia, konnte man im Juli und August ganz schön ins Schwitzen geraten. Liz mochte Norfolk, wenn es ihr auch nicht immer leicht fiel, ihr Leben überhaupt zu mögen. Schon gar nicht, seitdem Sarah vor viereinhalb Jahren zur Welt gekommen war.
Es war tragisch, mit achtzehn schwanger zu werden, und zwar aus purer Dummheit, weil man einem Typen vertraut hatte, der verkündete, er »werde schon aufpassen«. Mike Rapling hatte offensichtlich keine Ahnung vom Aufpassen gehabt, denn schon LizÕ erste sexuelle Begegnung mit ihm hatte sich als Volltreffer erwiesen. Später hatte Mike noch herumgeschimpft und behauptet, er sei hereingelegt worden, Liz habe ihn in eine Ehe nötigen wollen, aber er werde den Teufel tun, sich in seinem jugendlichen Alter bereits in Ketten legen zu lassen.

L
iz hatte Ströme von Tränen vergossen. »Und was ist mit meinem jugendlichen Alter? Und meinen Ketten? Ich habe jetzt das Kind am Hals, und mein Leben ist zerstört!«
Erwartungsgemäß hatte Mike dies nicht besonders gekümmert. Er weigerte sich rundweg, Liz zu heiraten, und verlangte sogar einen Vaterschaftstest, als das kleine Mädchen geboren war und die Frage der Unterhaltszahlungen drängend wurde. Zumindest an seiner Eigenschaft als Erzeuger konnte es danach keinen Zweifel mehr geben. Er zahlte widerwillig, wenn auch halbwegs regelmäßig, hatte aber nach zwei oder drei kurzen Besuchen jedes Interesse an seiner Tochter verloren.

E
s war keineswegs so, dass Liz ein Interesse an Sarah gehabt hätte, aber ihr blieb nichts übrig, als sich irgendwie um das Kind zu kümmern. Sie hatte gehofft, ihre Mutter, bei der sie noch immer lebte, würde ihr helfen, aber Betsy Alby war so geschockt von der Tatsache, dass in Zukunft ein Baby in der winzigen Sozialwohnung im trostlosesten Viertel von KingÕs Lynn herumschreien würde, dass sie ihrer Tochter unmissverständlich klarmachte, sie werde sich dieses Problems keinesfalls annehmen.
»Es ist dein Kind! Und es war deine idiotische Lüsternheit, die dich in diese Lage gebracht hat! Glaub nicht, dass irgendjemand zur Stelle ist, um dir das abzunehmen. Ich schon gar nicht! Du kannst verdammt froh sein, dass ich euch nicht alle beide vor die Tür setze!«

S
ie hatte geschimpft und geflucht und auch später, als die Kleine da war, nicht die geringsten Anzeichen großmütterlicher Gefühle gezeigt. Eisern blieb sie bei ihrer Drohung, sie werde sich »dieses Balg nicht ein einziges Mal aufs Auge drücken lassen!«.

Z
war saß sie den ganzen Tag in der Wohnung vor dem Fernseher, aß Kartoffelchips und begann in den späten - und zunehmend auch in den früheren - Nachmittagsstunden mit ihrem immensen Konsum von billigem Schnaps, aber selbst wenn Liz einkaufen ging, durfte sie ihre Tochter nicht zurücklassen, sondern musste mitsamt sperrigem Kinderwagen und schreiendem Baby in den Supermarkt trotten. Es konnte für Liz keinen Zweifel geben: Dieses Ergebnis einer leichtsinnigen verliebten Aprilnacht badete sie vollkommen allein aus.

M
anchmal war sie nahe daran zu verzweifeln. Dann wieder riss sie sich zusammen und schwor sich, sie würde sich nicht ihr Leben zerstören lassen. Sie war jung und attraktiv. Irgendwo musste es doch einen Mann geben, der sich trotz der Last, die sie mit sich herumtrug, ein gemeinsames Leben mit ihr vorstellen konnte.





(wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.12.2006