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Zur Unkenntlichkeit verbrannt

Nach Benzinexplosion suchen entsetzte Menschen ihre Angehörigen

Von Ulrike Koltermann
Lagos (dpa). Zunächst war von 40 Toten die Rede, dann von mindestens 200, 500 - und gestern Abend waren es 850. Doch auch das wird nicht die letzte Schreckenszahl von der verheerende Explosionskatastrophe in Nigerias Hafenmetropole Lagos sein.

»Viele der Opfer sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt«, sagte gestern Ige Oladimeji vom nigerianischen Roten Kreuz. Etwa 60 Menschen seien noch lebend aus den Flammen gerettet und in Krankenhäuser gebracht worden. Zehntausende Menschen, die zum Ort der Explosion gelaufen waren, schrien vor Entsetzen beim Anblick der Szenerie.
An der Unfallstelle gab es ein gewaltiges Feuer, die Rauchschwaden waren noch aus weiter Entfernung zu sehen. Die Feuerwehr bemühte sich den ganzen Tag über, den Brand unter Kontrolle zu bekommen. Mitarbeiter des Roten Kreuzes registrierten diejenigen, die Angehörige unter den Opfern befürchteten. »Es spielen sich grauenhafte Szenen ab«, sagte Oladimeji. »Es liegen verbrannte Leichen am Boden, und es kommen immer mehr Menschen, die ihre Verwandten suchen. Hier herrscht großes Chaos.«
Die Explosion ereignete sich in den frühen Morgenstunden des zweiten Weihnachtstages in Abule-Egba, einem dicht besiedelten Vorort von Lagos. Bewohner sagten, dass eine Gruppe von Benzindieben die unterirdisch verlegte Leitung angezapft und bereits 150 000 Liter in Lastwagen mit großen Plastiktanks abgefüllt hatten. Später sei eine zweite Diebesbande gekommen und habe die Leitung erneut angebohrt.
Zahlreiche Einwohner seien zu der Stelle geeilt, um ebenfalls von der angebohrten Leitung zu profitieren und selber Kanister zu füllen. Dann habe das Benzin Feuer gefangen und es sei zu einer Explosion von gewaltigem Ausmaß gekommen.
In dem westafrikanischen Land kommt es immer wieder zu derartigen Katastrophen, weil Leitungen angebohrt werden und hochentzündlicher Treibstoff illegal abgezapft wird, um ihn später auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Erst im Mai hatte es in einem Fischerdorf nahe Lagos bei einem ähnlichen Fall fast 200 Tote gegeben. Damals waren die Leichen durch den Druck der Explosion in die Mangrovensümpfe hinausgeschleudert worden. Der nigerianische Präsident Olusegun Obasanjo hatte damals mehr Sicherheit für die zum Teil überirdisch verlegten Leitungen gefordert. In den vergangenen Jahren sind bei derartigen Unfällen mehr als 1000 Menschen gestorben.
Die Unfälle machen deutlich, wie verzweifelt die Lage der Menschen in Nigeria ist. Sie nehmen jedes Risiko auf sich, um mit abgezapftem Benzin aus Pipelines auf dem Schwarzmarkt zu etwas Geld zu kommen. Nigeria ist der größte Ölproduzent des afrikanischen Kontinents und ein wichtiger Lieferant der USA. Trotz der Öleinnahmen des Staates leben viele Einwohner jedoch in bitterer Armut. Vor allem im Nigerdelta, dem Hauptsitz der Ölindustrie, gibt es in den Dörfern weder Strom noch sauberes Wasser. Die militante Bewegung für die Befreiung des Nigerdeltas kämpft gegen die Präsenz ausländischer Ölkonzerne, indem sie deren Mitarbeiter entführt und Anschläge gegen Ölanlagen richtet.

Artikel vom 27.12.2006