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22 Hessen wollen rübermachen

Westfalen ist für sie »viel praktischer« - Staatsvertrag soll Grenze ändern

Von Chris Melzer
Bontkirchen (dpa). Der Fluss Itter bildet die Grenze. Das rechte Ufer gehört zu Hessen, das linke zu Nordrhein-Westfalen. Vermutlich nicht mehr lange: Hessen soll kleiner werden, denn 22 Landeskinder wollen unbedingt Westfalen sein.

Auf der Westseite der Itter liegt Bontkirchen mit seinen etwa 500 Einwohnern, auf der Ostseite gibt es nur sieben Häuser, die zum hessischen Diemelsee-Stormbruch gehören. Doch das Örtchen ist knapp vier Kilometer weg. »Übern Berg«, wie man hier sagt. Wer zum Ortsvorsteher will oder auch nur zum Dorffest, muss sich auf den langen Weg machen. Nach Bontkirchen, ins Nachbarbundesland, sind es nur ein paar Schritte über die Betonbrücke.
»Wir haben eigentlich nichts zu tun mit Stormbruch«, sagt Maria Lange schulterzuckend. Die 75-Jährige betreibt eine Kneipe in Stormbruch, die trotz ihrer Wohnstubendimension für die 22 Einwohner viel zu groß wäre. »Aber es kommen ja die ganzen Bontkirchener hierher. Man kennt sich, und ich zapfe natürlich nur westfälisches Bier«, beteuert die alte Dame. »Nö, ich habe nichts gegen Hessen. Aber Westfalen ist viel praktischer«, erklärt sie.
Im Winter sei bis zum Ortskern oft kein Durchkommen, von der 25 Kilometer entfernten Kreisstadt Korbach ganz zu schweigen. »Dabei ist der nächste größere Ort doch so nah, nur ein paar Schritte über die Brücke.«
»Ach, wenn es so einfach wäre«, sagt Lothar Hennecke kopfschüttelnd. Wenn ein Kind zur Schule wolle, könne es nicht einfach in den Nachbarort. »Das nächste Gymnasium liegt im westfälischen Brilon, fünf Kilometer entfernt«, erklärt Hennecke. »Wir müssen tausend Anträge stellen, damit uns das Gymnasium im doppelt so weit entfernten Adorf freilässt und wir unsere Kinder nach Brilon schicken können.« Die Genehmigung komme, für jeden einzelnen Fall, extra aus den Kultusministerien in Wiesbaden und Düsseldorf.
Stormbruchs Ortsvorsteher kann seine 22 Renegaten verstehen. »Ich würde auch rüberwollen«, sagt Hans-Jürgen Becker, der für 420 Einwohner verantwortlich ist. Keiner wisse mehr, wo früher die kurkölnische Grenze war, und im Grund seien sich alle einig, dass die sieben Häuser viel besser nach Westfalen passen. Bis auf eines: Zu dem Ortsteil gehört auch ein Sägewerk. Angeblich möchte der Kreis wegen der Gewerbesteuer die 22 nicht gehen lassen.
»Das kann man so nicht sagen«, beteuert Otto Wilke vom Landkreis Waldeck-Frankenberg. »Die Korrektur der Landesgrenze stand nicht auf dem Plan, weil wir erst einmal die Kreisreform verdauen mussten«, sagt der Kreisbeigeordnete. Mittlerweile laufe alles in geregelten Bahnen, und für den Übertritt der 22 gebe es eine breite Mehrheit. »Ortsbeiräte und Kreistag haben jeweils einstimmig beschlossen, dass dieser Teil von Stormbruch nach Westfalen geht. Weil dazu ein Staatsvertrag her muss, wird es wohl noch dauern«, erklärt Wilke. Der Landkreis Waldeck-Frankenberg würde dann 22 Mal die Schlüsselzuweisung von etwa 1000 Euro aus den Kommunalfinanzen verlieren.

Artikel vom 27.12.2006