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Erik kam vier Monate zu früh:
Ärzte retten 530-Gramm-Baby

Zwillingsbruder Nick verlor den Kampf ums Leben kurz nach der Geburt

Von Christian Althoff
Herford (WB). Der Kampf um das winzige Leben dauerte fünf Monate: Im Kinderkrankenhaus Herford haben Ärzte und Schwestern ein Baby gerettet, das 17 Wochen zu früh zur Welt gekommen war und nur 530 Gramm wog. »Es grenzt an ein Wunder, dass wir in diesem Jahr Weihnachten zu dritt feiern können«, strahlt Genia Weigandt (27), die Mutter des kleinen Erik.

Es habe Tage gegeben, an denen das Leben des Säuglings zu Ende zu gehen schien, erinnert sich Dr. Rolf Muchow, Chefarzt der Kinder- und Jugendklinik. »Du stehst vor dem Baby und siehst, dass es zu wenig Sauerstoff bekommt. Aber es gibt kein Rad, an dem du noch drehen könntest. Der Sauerstoffregler des Beatmungsgerätes steht schon auf 100 Prozent, und Druck und Frequenz können auch nicht mehr erhöht werden. Da kann man nur noch beten.«
Die ersten fünf Monate der Schwangerschaft waren problemlos verlaufen. »Meine Frau und ich wussten, dass es Zwillinge werden würden. Wir haben uns doppelt gefreut«, erzählt Vladimir Weigandt (30), selbständiger Kaufmann aus Bad Oeynhausen. Dann setzten am 4. April die Wehen ein - vier Monate vor dem errechneten Geburtstermin. Genia Weigandt kam sofort ins Klinikum Herford, doch die Geburt war nicht mehr aufzuhalten: Am nächsten Morgen wurde die Frau per Not-Kaiserschnitt von zwei Jungen entbunden - Erik und Nick. »Man kann sich gar nicht vorstellen, wie winzig die waren!«, erinnert sich der Vater lächelnd. Mit 29 Zentimetern maßen die Frühchen nur gut halb so viel wie ausgetragene Babys, und mit etwas mehr als 500 Gramm hatten sie nur ein Siebtel des üblichen Geburtsgewichtes.
»Die Überlebenschancen eines so jungen Säuglings liegen zwischen 50 und 60 Prozent«, sagt Dr. Muchow. Gewöhnlich überstünden die Kinder die ersten beiden Tage recht gut, weil sie von der Geburt noch viel Adrenalin im Körper hätten. »Die erste Krise tritt meist am dritten Tag auf«, erklärt der Arzt. So lange hielt Nick nicht durch: Er starb nach 15 Stunden an einer Lungenblutung.
»Dieses große Glücksgefühl, das andere haben, wenn sie Eltern werden - wir konnten es damals nicht empfinden«, erzählt Vladimir Weigandt. »Wir haben um Nick getrauert und um Erik gebangt.« Jeden Tag wachte die Mutter bis spät in den Abend am Wärmebett ihres Jungen, Woche um Woche, Monat um Monat. »Wir sind den Ärzten und Schwestern sehr dankbar, dass sie sich in dieser Zeit nicht nur um unser Kind gekümmert, sondern uns auch immer wieder Mut gemacht haben«, sagt Genia Weigandt. Trotzdem seien die Ärzte immer ehrlich und nie übertrieben optimistisch gewesen. »Falsche Hoffnungen zu wecken nützt nämlich niemandem«, sagt Dr. Muchow.
Das größte Problem bei Frühchen wie Erik sei die Lunge, erklärt der Chefarzt: »Wir können so einen Säugling zwar beatmen, aber beim Ausatmen fallen die Lungenbläschen wie Kaugummiblasen zusammen - und sie verkleben ebenso.« Der Grund sei, dass den Babys in diesem frühen Alter noch eine spezielle Beschichtung der Lunge fehle, die das Zusammenkleben verhindere. Dieses Eiweiß-Fettgemisch werde allerdings seit etwa 15 Jahren künstlich hergestellt und könne den Frühchen über die Beatmungssonde zugeführt werden. »Die Erfindung dieses sogenannten Surfactants ist ein Segen. Ohne das Mittel könnten wir Kinder wie Erik überhaupt nicht retten«, erläutert der Chefarzt der Kinderklinik, die als Perinatalzentrum jährlich 180 Frühchen unter 1500 Gramm aus den Kreisen Herford und Minden-Lübbecke versorgt.
Trotz des Surfactants und modernster Oszillationsbeatmung hatte Erik an einigen Tagen Probleme, genügend Sauerstoff zu bekommen: Er atmete einfach nicht tief genug. »Wir haben manches Mal befürchtet, es gehe zu Ende«, erinnert sich die Mutter. Niemand habe mehr etwas für ihren Jungen tun können. »Wir haben an Eriks Bett gesessen und gehofft - und er hat es jedesmal aus eigener Kraft geschafft«, lächelt Genia Weigandt. »Ich glaube, sein Zwillingsbruder hat ihm die Kraft gegeben, die er selbst nicht mehr brauchte«, sagt der Vater nachdenklich.
Zu den Lungenproblemen des Frühchens kamen weitere Komplikationen: Fünf Wochen nach der Geburt wurde Erik vorübergehend ins Herzzentrum nach Bad Oeynhausen verlegt. Dort musste ein großes Blutgefäß abgeklemmt werden, das sich bei normal ausgetragenen Babys einen Tag nach der Geburt von selbst verschließt. Zwei Monate später kam das Frühchen in die Universitäts-Augenklinik nach Münster, wo unter Vollnarkose die Netzhäute mit Laserstrahlen angeheftet werden mussten - sie hatten sich, wie bei vielen Frühgeborenen, durch wuchernde Adern gelöst.
Am 14. September, dem 30. Geburtstag des Vaters, war Erik endlich so stabil, dass die Eltern ihn mit nach Hause nehmen durften. Heute wiegt der knapp neun Monate alte Junge 6000 Gramm und ist 62 Zentimeter groß. Es wird noch lange dauern, bis Eriks Lunge so leistungsfähig ist wie die eines vollständig ausgetragenen Kindes, aber das tut dem Glück der Eltern keinen Abbruch. »Ich lasse Erik jeden Tag Kochsalzlösung inhalieren und gehe mit ihm zur Krankengymnastik, um ihn zu fördern. Er macht Fortschritte«, strahlt die Mutter.
»Man darf nicht vergessen, dass längst nicht jedes Frühchen soviel Glück hat wie dieses«, sagt Chefarzt Rolf Muchow. »Trotz modernster Medizin schaffen es viele dieser kleinen Babys überhaupt nicht, und andere sind schwer behindert.« Zum Glück gebe es aber eben auch Patienten wie Erik. Muchow: »Zu sehen, wie gut es dem Kleinen heute geht - das hält einen Kinderarzt aufrecht.«

Artikel vom 23.12.2006