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»Die Lebenslügen noch viel
gründlicher aufarbeiten«

Alfred Buß, Präses der Evangelischen Landeskirche von Westfalen

Bielefeld (WB). Mit Alfred Buß, dem Präses der Evangelischen Landeskirche von Westfalen, sprachen Reinhard Brockmann und Andreas Kolesch.

Deutschland arbeitet an großen Reformen. Stimmt die Richtung?Buß: Ich freue mich, dass die Konjunktur anspringt, habe aber den Eindruck, dass viele große Probleme zu wenig angegangen werden. Springen wir in der Föderalismusreform weit genug? Blockieren wir uns nicht zu sehr? Die beiden großen Parteien haben sehr viele Schnittmengen. Da müssten die großen Mehrheiten für eine Gesundheitsreform, in der Steuerpolitik und im Sozialen möglich werden. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass die großen Würfe dabei heraus kommen.

Weniger als vier Millionen Arbeitslose, Tendenz weiter sinkend. Da kann man sich doch zurücklehnen, oder?Buß: Ich bin sehr skeptisch, was das für die Arbeitslosigkeit auf Dauer bedeutet. Unser System ist darauf angelegt, dass es einen Sättigungsgrad gibt, dass die Konjunktur aufgrund von Technologieschüben erst einmal wieder Luft holen muss. Mit jeder Rezession ist die Sockelarbeitslosigkeit ein Stück gestiegen. Viel zu viele werden in der Langzeitarbeitslosigkeit bleiben.

Was kann die Kirche in dieser Situation beitragen?Buß: Sie kann mithelfen, Politik möglich zu machen. Die Kirche nimmt die Perspektive derjenigen ein, die von Unzumutbarem betroffen sind. 1,7 Millionen Kinder werden in Armut groß, obwohl sie dies nie verursacht haben. Armut heißt aber mehr als finanzielle Armut. Sie bedeutet auch verschlossene Türen und fehlende Teilhabe. Die EKD hat in diesem Jahr - Gott sei Dank noch vor der Unterschichtendiskussion - gesagt, dass sich Armut nicht in fehlendem Einkommen erschöpft.
Das Ganze ist ein Teufelskreis aus mangelnder Frühförderung, fehlendem Zugang zur Bildung, keinem Abschluss, keiner Ausbildung, keinem Job, keinem Geld, schlechter Gesundheit, schlechter Ernährung. Egal an welcher Stelle einer in diesen Kreislauf hineingerät, er kommt kaum wieder aus der Spirale nach unten heraus.

Reichen 345 Euro und eine warme Wohnung zum Leben?Buß: Im Vergleich mit Tansania, wo Menschen von einem Dollar am Tag leben, muss in Deutschland keiner verhungern, erfrieren oder nackt herumlaufen. Wenn ich aber innerhalb unseres Systems vergleiche, heißt die Frage: Kann mein Kind ins Freibad gehen, kann ich mir etwas erlauben, was für alle anderen selbstverständlich ist? Mit jeder täglichen Entscheidung in einer Gesellschaft, in der der Konsum immer wichtiger wird, bekomme ich mitgeteilt: Du gehörst eigentlich nicht mehr dazu.

Wecken Forderungen nach weiteren Kürzungen am Arbeitslosengeld (ALG) den heiligen Zorn des Kirchenmanns?Buß: Das weckt ihn deswegen, weil das eine zynische Forderung ist von der Art: Pflückt endlich die Äpfel von dem Baum, der in Wahrheit eine Pappel ist. Da schwingt die Behauptung mit, die Menschen wollten in Wahrheit gar nicht arbeiten. Nicht gesehen wird, dass es vier Millionen Jobs für vier Millionen Arbeitslose gar nicht gibt.

Aus der Politik selbst kam im Sommer die Erkenntnis, die Grenzen des Sozialen könnten zu eng gesteckt sein.Buß: Alle Menschen haben ein Gerechtigkeitsempfinden. Wenn sich einer 35 Jahre krumm gelegt hat und er gerät in ALG II, dann stimmt etwas nicht. Jürgen Rüttgers hat das sehr genau gespürt. So kann man mit Menschen nicht umgehen. Natürlich muss man auch fragen, was ist mit dem 25-Jährigen, dem ständig gesagt wird: »Du wirst hier nicht gebraucht.«
Ausgehend von einem Gerechtigkeitsbegriff, der Leistung im Blick hat, ist die Position von Rüttgers sehr wohl nachzuvollziehen. Wenn ich aber von der Teilhabegerechtigkeit ausgehe, von der Perspektive des jungen Menschen, dann sehe ich das etwas anders. Wir brauchten eine qualifizierte Diskussion, die auch in der Politik klar sagt, von wo aus wir denken. Die Debatte wünschte ich mir komplexer. Rüttgers wird genau wissen, weshalb er auf die Menschen setzt, die sonst Klientel der SPD sind. Er tut das in einer Situation, in der die SPD in Nordrhein-Westfalen ausblutet und sich neu aufstellen muss.

Gibt es gar mehrere Lebenslügen? Manche Politiker tun so, als ob es die ganz unten nicht gäbe.Buß: Über das Wort Unterschicht sollten wir nicht streiten. Sprechen wir doch lieber direkt über Armut. Ich kann auch aus der Oberschicht oder aus der Mittelschicht fallen und in Armut landen.
Rüttgers hat ein weiteres Thema angesprochen: die Steuerpolitik. Wir haben seit mindestens 20 Jahren ein Dilemma. Bei niedrigeren Steuern soll mehr Geld in private Kassen fließen, den Konsum anregen und Arbeitsplätze bringen. Das funktioniert nicht. Wir haben eine Steuerpolitik, die nur dazu geführt hat, dass die öffentlichen Kassen leer sind.

Ist der Sonntag in Gefahr? In Berlin waren alle vier Adventssonntage verkaufsoffen, in NRW einer.Buß: In Bielefeld gibt es im Gartencenter und Baumarkt sonntags bessere Preise. Es gibt seitens großer Unternehmen eine Strategie, bewusst den Sonntag auszuhöhlen. Familienbetriebe können da nicht mithalten. Toplagen setzen sich durch gegen Randlagen und damit gegen ganze Stadtviertel. Die Arbeitszeiten verteilen sich immer mehr. Gemeinsame Zeit wird immer knapper. Die Familie trifft sich zum Adventskaffee und Mutti steht an der Kasse. Der Sonntag ist der Einspruch gegen die Herrschaft des Ökonomischen.

Leerstehende Gebäude bei immer weniger Getauften kosten unnützes Geld, was tun?Buß: Wir müssen rückbauen und der Kirche ein Kleid schneidern, das wieder zu ihrer Figur passt. Ansonsten geht es um Gebäude, die nach evangelischem Verständnis nicht an sich heilig sind, sondern die geheiligt sind dadurch, dass Menschen dort gebetet und ihre persönlichen Gefühle und Lebensstationen erlebt haben. Wir müssen neue Nutzungen finden, etwa durch jüdische Gemeinden. Das sollte man nicht verdächtigen und einen falschen Zungenschlag hinein bringen.

Eine ehemalige evangelische Kirche wäre als Synagoge vorstellbar?Buß: Das kann für uns kein Problem sein. Wir haben jüngst das Bekenntnis zu unseren jüdischen Wurzeln in die Kirchenordnung aufgenommen. Es wäre etwas völlig anderes, wenn eine Moschee daraus würde. Unsere Bibel besteht aus zwei Teilen, dem jüdischen Alten Testament und dem christlichen Neuen Testament. Ein Muslim kann sich nicht vorstellen, dass Gott Mensch wird. Ist es denn sofort derselbe Gott, wenn man »Allah« sagt? Ist es nicht gerade wichtig, das auszudifferenzieren? Man muss intensiver schauen, wo haben wir Gemeinsamkeiten, aber man sollte sie nicht gleich voraussetzen.

Muslimische Gebetsräume werden allerdings dringender gesucht.Buß: Das kommt nicht in Frage und ist kategorisch ausgeschlossen. Es würde bedeuten, Kirchen einer Nutzung zuzuführen, die der bisherigen widerspricht. Wir müssen erst einmal in intensiven Dialogen klären, was es an wirklich Gemeinsamem gibt. Das ist keine Missachtung von Muslimen oder des Islam. Wenn wir nicht mehr differenziert sind in unserem Denken und in unserem Glauben, dann können wir überhaupt nichts mehr vermitteln.

Artikel vom 23.12.2006