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Hirn- und Gedächtnisforscher Prof. Hans-Joachim Markowitsch

Erinnerungen - wahr
oder reine Erfindung?

Hirnforscher Markowitsch über »false memory«


Von Sabine Schulze
Bielefeld (sas). Das Gehirn, ein unbestechlicher Speicher? Falsch: Es kann sich gewaltig täuschen. Und Wissenschaftler können Probanden sogar gezielt vermeintliche Erinnerungen einreden. »False memory« nennen die Hirnforscher dieses Phänomen, das mit einer Lüge nichts zu tun hat.
Prof. Dr. Hans-Joachim Markowitsch, der an der Universität Bielefeld Physiologische Psychologie lehrt, kennt Beispiele für »false memory« und erzählt von den Versuchen einer amerikanischen Kollegin: Die hatte aus Familienfotos den Kopf eines Kindes herausgenommen und in Aufnahmen von einer Fahrt mit dem Heißluftballon montiert. »Prompt hat das Kind erzählt, wie schön die Fahrt gewesen sei und wie klein Menschen und Autos von oben waren.«
Auch Markowitsch selbst hat das Phänomen erlebt - als ihm ein englischer Kollege anlässlich einer Tagung ein gemeinsames Erlebnis während eines anderen Symposiums in Erinnerung rufen wollte. »Er war der festen Überzeugung, richtig zu liegen.« Erst ein italienischer Kollege klärte die Sache auf und überzeugte den Briten, dass Markowitsch tatsächlich und bestimmt nicht an dem Symposium teilgenommen hatte. »Der Kollege war im Stress - und das kann eine Ursache für falsche Erinnerungen sein«, sagt Markowitsch. Aber auch Menschen, die leicht zu beeinflussen sind, die wegen einer psychischen oder physischen Ausnahmesituation labil sind, fallen leichter auf trügerische Erinnerungen herein.
Gravierend kann sich das vor Gericht auswirken, wenn es aufgrund zu eindringlicher, suggestiver Befragungen zu unwissentlichen und unwillentlichen Falschaussagen kommt. »Die Folge können Fehlurteile sein, ebenso aber auch die Traumatisierung eines angeblichen Opfers, das womöglich einen sexuellen Übergriff 'erinnert', der nie stattgefunden hat.« Für das Individuum ist eine so manipulierte Erinnerung nicht zu unterscheiden von echtem Erleben. Die Verantwortung der Therapeuten ist also groß. In den USA, erzählt Markowitsch, seien bereits Therapeuten wegen Suggestion verklagt worden und sollten Millionen zahlen.
Dass es zum Phänomen der »false memory« auch ohne »Einreden« kommt, erklärt der Bielefelder Hirnforscher mit dem Begriff »Zustandsabhängigkeit«: Beim Einspeichern und beim Abrufen von biographischen Informationen kommt es auf die emotionale Lage an. Je nach Stimmung erscheint das Erlebte grau in grau oder eben lebhaft gefärbt. »Und das ist kein Fehler, sondern von der Natur so gewollt. Denn so integrieren wir das, was wir in unser Gedächtnis aufnehmen, in ein für uns stimmiges, passendes Weltbild.«
Dazu gehört, dass sich Information verändert: »Jede Erinnerung an Ereignisse führt bei ihrem Abruf automatisch zu einer Neu-Einspeisung ins Gedächtnis.« Erfolgt die Erinnerung in entspannterer Atmosphäre, verblasst auch ein schreckliches, belastendes Erlebnis. »Und das ist auch genau ein Therapiekonzept.«
Nicht gefeit vor der false memory sind aber auch junge Menschen - wie die Studenten, die genau wussten, worum es geht, als ihnen die Psychologen zwei kurze Filmchen vorführten. Der eine zeigte einen jungen Mann beim morgendlichen Aufstehen und Frühstücken gefilmt, der andere eine junge Frau in einer Parfümerie. Als die Forscher den Studierenden danach Standbilder aus diesen Filmen und andere Fotografien zeigten und die Probanden sagen sollten, welche Bilder sie in den Filmen gesehen hatten, lagen sie oft daneben: »44,8 Prozent ihrer Aussagen waren falsch«, sagt Hans-Jürgen Markowitsch. Ihre Erinnerung hatte sich als trügerisch erwiesen - für Richter sicher interessant. »Weil wir aber gleichzeitig die Hirnaktivität gemessen haben, konnten wir sehen, dass bei richtigen Antworten das Stirnhirn reagiert hat, während bei falschen eine dahinter liegende Region, der visuelle Assoziationscortex, aktiv war.« Bildgebende Verfahren könnten also verraten, ob jemand einer Fehlerinnerung aufgesessen ist.

Artikel vom 22.12.2006