19.12.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

»Was muss noch passieren?«

Kevin-Untersuchungsausschuss: Zeugen erheben schwere Vorwürfe

Bremen (dpa). Nach dem tragischen Tod des kleinen Kevin aus Bremen haben Zeugen gestern den Behörden vor dem Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft Fehleinschätzungen vorgeworfen.

»Es hat massive Formen von Kindesmisshandlungen gegeben«, sagte Bremens Justizstaatsrat Ulrich Mäurer gestern über die Leiden des zwei Jahre alten Jungen. Mäurer war kurz nach dem Fund der Leiche von Bremens Regierungschef Jens Böhrnsen (SPD) mit einer Dokumentation des Falles beauftragt worden.
Kevin sei zum Beispiel im August 2004 mit zahlreichen Brüchen in eine Klinik eingeliefert worden. »Die Situation gerät völlig außer Kontrolle, und das Amt reagiert offensichtlich überhaupt nicht. Da ist immer die Frage, was muss noch passieren.« Die Familienhebamme, die die schwangere, drogensüchtige und HIV-positive Mutter des Kindes betreute, sprach von wenig Engagement des zuständigen Sozialarbeiters.
Die Leiche des kleinen Kevin, der unter der Vormundschaft des Jugendamtes stand, war am 10. Oktober im Kühlschrank seines drogensüchtigen Ziehvaters entdeckt worden. Danach waren massive Fehler der Bremer Sozialbehörde bekannt geworden. Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) trat zurück, der Leiter des Jugendamtes wurde vom Dienst suspendiert. Gegen zwei Mitarbeiter der Behörde wurden strafrechtliche Ermittlungen wegen Vernachlässigung der Fürsorgepflicht eingeleitet. Röpke wie auch Böhrnsen waren über die Lebensumstände Kevins informiert.
Künstliche Ernährung, Knochenbrüche, Infektionskrankheiten - aus den Akten gehen eine Reihe schwerer Missstände im Fall des Kindes hervor. »Die Akten geben keine Antwort auf die Frage, welche Entscheidungen getroffen wurden«, sagte Mäurer über Lücken in der Dokumentation.
»Ich hoffe immer noch, dass es für alles noch eine andere Erklärung gibt. Dies geht aber aus den Akten nicht hervor.« Ebenso gehe nicht daraus hervor, ob der Sozialarbeiter Kenntnisse über den Zustand von Kevins im November 2005 gestorbener Mutter und ihrem Lebensgefährten hatte.
Für sie sei klar gewesen, dass die Mutter nicht ausreichend für ihr Kind sorgen könne, sagte die Hebamme. »Meine Einschätzung war, dass das Kind da nicht bleiben kann.« Sie habe das Pärchen später wiedergesehen, und die beiden standen dabei offensichtlich so unter Drogen, dass sie das Kind nicht füttern konnten. »Ich kann nicht sagen, dass ich es mit zwei Eltern zu tun hatte, die sich auf ihr Kind freuen.« Der zuständige Sozialarbeiter habe noch während der Schwangerschaft bei einer Besprechung lediglich gesagt: »Das hört sich ja alles nicht so gut an.«
»Im Fall Kevin hat das Zusammenspiel der staatlichen Hilfen sträflich versagt«, hatte Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) festgestellt. Der Ausschuss soll untersuchen, welche möglichen strukturellen Probleme der Behörden zum tragischen Tod Kevins geführt haben.
Bereits für die ersten drei Tage haben die Abgeordneten zur Eröffnung der Beweisaufnahme 24 Zeugen vor das Gremium geladen. Polizisten, Sozialarbeiter, Ärzte und Bewärungshelfer sollen Auskunft über das Schicksal des Jungen und die Einschätzungen der Ämter geben. Ein Abschlussbericht soll bis Mai fertig sein.

Artikel vom 19.12.2006