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Doping

Wenn die Chemie nicht stimmt

Eines steht fest: Die Tour de France wird es auch 2007 geben. Ob dann der Sieger für 2006 gefunden worden ist, bleibt ungewiss. Noch steht der des Dopings überführte Floyd Landis in der Liste oben.


Doch das soll sich ändern. Ob aber der Zweite, der Spanier Oscar Pereiro, das weitergereichte Gelbe Trikot überhaupt im Schrank haben will, ist fraglich. Dass das Gezerre um das grelle Leibchen noch anhält, ist ein Armutszeugnis. All das zeigt, wie schwer sich der Sport im Umgang mit seinen Sünde(r)n tut. Es war aber auch ein Jahr, in dem zu oft die Chemie nicht stimmte.
Aufstieg und Fall des radelnden US-Amerikaners, der die turbulenteste, abwechslungsreichste und spannendste Tour de France der jüngeren Vergangenheit mit einem fast schon offensichtlichen Betrugsversuch mutwillig »zerstörte«, waren nur die Sp(r)itze des Eisberges.
Auch andere hatten es im Blut: 100 m-Weltrekordler und Olympiasieger Justin Gatlin half ebenso nach wie jene österreichischen Biathleten, die vor Beginn der Olympischen Winterspiele in Turin ihren Abgang wie in einem schlechten Film inszenierten.
Einer, der gern noch mal gezeigt hätte, was alles in ihm steckt, wurde vom Sattel geholt, ehe in Frankreich die Räder überhaupt rollten: Jan Ullrich durfte wie 58 andere hochgradig verdächtige »Kollegen« erst gar nicht an den Start. Ihre Namen waren von der Staatsanwaltschaft bei einer Razzia (»Operacion Puerta«) in den gut sortierten Listen spanischer Ärzte immer wieder aufgetaucht. Nicht nur wegen Jan Ullrich zieht sich die Doping-Spur mitten durch Deutschland. Kontakte von Medizinern und Trainern nach Spanien lassen mafiöse Netzwerke vermuten, die sich von der iberischen Halbinsel bis in die Staaten der ehemaligen Sowjetunion erstrecken. Aber sind es ausschließlich Radfahrer, die nicht nur aerodynamisch, sondern auch biochemisch »getunt« werden? Oder vertrauen sogar die Fußballer schon der Kraft des Blutes? Für die Leichtathleten Nils Schumann und Grit Breuer war offenbar ein spanischer Arzt genauso wichtig wie der Trainer Thomas Springstein zu Hause. Ist denn das ganze Geschäft verseucht? Nichts gibt es, was es nicht gibt: Experimente mit Eigenblut, Wachstumshormone, EPO-»Kuren«, Testosteron-Pflaster, Designerdrogen aus dem Gen-Labor: das volle Programm - zum Wohle des Sports?
Das schlechte Vorbild zieht Kreise: Von blutigen Anfängern kann selbst im Breitensport nicht mehr die Rede sein. Der Mediziner Carsten Boos (Universität Lübeck) kommt zu folgendem Schluss: »Bei vorsichtiger Schätzung gibt es bundesweit 200 000 Breitensportler, die mit Anabolika oder anderen Substanzen Missbrauch betreiben.« Im Nachbarland Belgien heißt es, bei Hobbyradrennen trete jeder zehnte Teilnehmer gedopt in die Pedalen.
Was wirklich fehlt, sind nicht in erster Linie Gesetze. Es mangelt an Glaubwürdigkeit im Kampf gegen die Unglaubwürdigkeit. Vor allem müssten die Aktiven Farbe bekennen: die Ehrlichen zuerst, denn sie werden von der Pharma-Konkurrenz ausgestochen. Und dann die Ertappten oder die fast Überführten: Aber sie schweigen -Ê wie Ullrich. Oder sie leugnen - wie viele andere. Und drohen mit Anwälten -Ê wie Landis.
Wer das Gute im Sportler suchte, fand in 2006 oft nur viel Chemie. So ist der Sport, insbesondere der im Höchstleistungsbereich, nicht mehr der, der er mal war. Und doch werden Tränen, Tragödien oder Triumphe im Trikot auch 2007 für viele Menschen wieder die schönste Hauptsache der Welt sein. Mag die Fassade bröckeln, die Faszination bleibt - das Unbehagen auch.


Ein Beitrag von
Hans Peter Tipp

Artikel vom 30.12.2006