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Ärzte sollen Kinder schützen

Säugling in Thüringen verdurstet - Pflichtuntersuchung gefordert

Berlin/Sömmerda (dpa). Jeden zweiten Tag stirbt in Deutschland ein Kind an den Folgen von Gewalt oder Vernachlässigung. Jüngster Fall: Im thüringischen Sömmerda ließ eine 20-Jährige Mutter ihren neun Monate alten Sohn verdursten. Der Bundesrat forderte am Freitag die Einführung einer Frühuntersuchungspflicht. Skeptisch: Kinderärzte-Sprecher Walter Müller.

Der kleine Leon aus Sömmerda war verdurstet, weil ihn seine Mutter vier Tage lang in der Wohnung zurückgelassen hatte. Seine zwei Jahre alte Schwester Lena überstand das Martyrium in einem Laufgitter trotz akuten Flüssigkeitsmangels. Zwei Polizistinnen hatten die Wohnung öffnen lassen, weil das Jugendamt die Kinder in seine Obhut nehmen wollte. Die 20-jährige Mutter wurde festgenommen.
Die Kriminalstatistik für das Jahr 2005 weise 178 Fälle auf, in denen Kinder Opfer von Mord, Totschlag oder fahrlässiger Tötung durch Vernachlässigung wurden, berichteten die Deutsche Kinderhilfe Direkt und der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK). Für das laufende Jahr werde es eine ähnlich traurige Bilanz geben.
Die Jugendämter hätten zwar weit reichende Befugnisse und könnten Kinder bei Gefahr auch ohne Richterbeschluss aus ihren Familien holen, aber: »Die Leute sind doch personell gar nicht in der Lage, rauszukommen, die sitzen doch nur am Schreibtisch«, sagte der Vorstandsvorsitzende der Kinderhilfe, Georg Ehrmann. Es sei wichtig, die aufsuchende Jugendhilfe auszubauen, das erfordere aber deutlich mehr Personal.
Der Bundesrat forderte auf Antrag Hessens und des Saarlandes die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf zur Einführung verpflichtender Frühuntersuchungen vorzulegen. Danach sollen Arztbesuche für alle Kinder im Alter von einem halben Jahr bis zu fünfeinhalb Jahren vorgeschrieben werden.
In der Bundesratsentscheidung heißt es, Kinder benötigten eine positive Lebenswelt, in der sie gesund aufwachsen könnten und vor Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellem Missbrauch geschützt seien. Der Bund soll auch ein Gesetz schaffen, damit persönliche Daten der Kinder und ihrer Eltern länderübergreifend zwischen den Melde- und Sozialbehörden ausgetauscht werden können. Nach Expertenschätzung sind in Deutschland bis zu 80 000 Kinder von Verwahrlosung und extremer Vernachlässigung bedroht.
Der Sprecher der Bielefelder Kinderärzte, Dr. Wilhelm Müller hat Zweifel an der Pflicht zur Frühuntersuchung. Anstatt auf schwer durchsetzbare Kontrollen und Sanktionen zu setzen, sollten die Krankenkassen durch regelmäßige Informationsbriefe auf anstehende Vorsorgeuntersuchungen aufmerksam machen. Problemfamilien, die selten mit ihren Kindern zum Arzt gehen, bräuchten persönliche Ansprache, nicht Kontrollen. Aus aller Welt:
Der Tod des kleinen Leon

Artikel vom 16.12.2006