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Wort zum Sonntag

Heute von Pfarrer em. Hans-Jürgen Feldmann

Hans-Jürgen Feldmann ist Pfarrer im Ruhestand.

Daß Kirchengebäude aufgegeben, d.h. nicht mehr für Gottesdienste genutzt werden, ist eine für Westdeutschland noch junge und fremde Erfahrung. Man hatte sich eher an das Gegenteil gewöhnt: Nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele neue Gemeinden entstanden und mit den entsprechenden Räumlichkeiten ausgestattet worden. Neu errichtete Kirchen erreichten eine Dichte, wie sie in Europa einmalig und ohne Parallele ist.
Aber die Ausgangslage war ja auch eine andere: Flüchtlinge und Vertriebene in großer Zahl mußten aufgenommen und untergebracht werden. Durch sie wuchs die Bevölkerung erheblich an, und überall - auch als Ersatz für die zahlreich zerbombten Häuser - entstanden neue Wohngebiete. Diese sollten ebenfalls kirchliche Zentren erhalten und damit für ihre Bewohner auch zur geistlichen Heimat werden. Pate stand dabei das Modell der überschaubaren Gemeinde, in der die Menschen sich kennen und zusammenhalten. Eingeweiht wurden solch neue Gotteshäuser gern in der Adventszeit; der Gedanke der Erwartung und des Wachstums war dafür naheliegend.
Doch auf die Dauer entwickelten sich die Dinge anders: Aus unterschiedlichen Gründen schrumpften die Zahlen der Gemeindeglieder erheblich, mancherorts in wenigen Jahrzehnten um mehr als die Hälfte. Dies konnte nicht ohne finanzielle Folgen bleiben. Trotzdem stellte die westfälische evangelische Landeskirche ausgerechnet in dieser Zeit viel mehr Pastoren ein, als sie sich eigentlich leisten konnte, und das Geld für die so gestiegenen Personalkosten fehlte anderswo, wenn auch nicht sofort.
Die Kirchengemeinden - insbesondere die kleinen und jungen - bekamen das zu spüren und sahen sich zu Einsparungen, bis hin zu immer unvermeidlicher werdenden schmerzhaften Einschnitten, gezwungen. Kirchen müssen veräußert und umfunktioniert oder, wenn das nicht gelingt, schlechtestenfalls abgerissen werden, damit sich die Grundstücke anderweitig nutzen lassen. Ihre Türme, einst Akzente im Stadtbild, verschwinden dann ein für allemal, und der Klang ihrer Glocken verstummt für immer.
Für die betroffenen Menschen wiegt das jedoch noch schwerer: In ihrer Kirche waren vielleicht schon die Großeltern zu Hause, und die Eltern waren darin getraut. Sie selbst empfingen in ihr die Taufe und wurden darin später auch konfirmiert. Pastoren waren gekommen und gegangen; der vertraute Kirchenraum aber war geblieben - mit dem großen Kruzifix über dem Altar oder den farbigen Fenstern, mit dem unverwechselbaren Klang der Orgel und vor allem voll von Erinnerungen. Denn eine Kirche, das ist ein Stück eigenen Lebens; und bei ihrem Ende, da stirbt auch in einem selbst etwas.
Die Adventszeit hat für diese dunklen Erfahrungen ebenfalls eine Stimme. Das Evangelium des morgigen 3. Adventssonntags trifft Johannes den Täufer im Gefängnis und hört ihn im Hinblick auf Jesus die Worte sagen: „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten“ (Matth. 11, 3)? Daraus spricht die Anfechtung, man könnte sich in der Sache Gottes auch getäuscht haben, sie trage vielleicht doch nicht, sondern sei nur eine Illusion.
Muß ein Kirchengebäude aufgegeben werden, ist das ein Zeichen für eine tiefe Krise. Aber es bedeutet nicht den Untergang der Kirche als solcher. Im Licht des Evangeliums - dafür steht der angefochtene Johannes - kann ehrlich zugegeben werden, daß man auf Vertrautes und Liebgewordenes unter Umständen verzichten muß - ohne daß die Konturen von etwas Neuem schon sichtbar wären. Doch wenn Johannes auf Christus schaut, kann er eben auch sagen: „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen“ (Joh. 3, 30).

Artikel vom 16.12.2006