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Amoklauf in Emsdetten

Nachahmer unterwegs

Die Zeiten, in denen Schulleiter Drohungen oder Gewalttaten von Schülern heruntergespielt haben, weil sie um den Ruf ihrer Schule fürchteten - sie sind seit dem Amoklauf von Emsdetten vorbei.


»Der Appell des Landesinnenministers, in jedem Fall die Polizei zu informieren, trägt erste Früchte«, sagt Wolfgang Beus, der Sprecher von NRW-Innenminister Ingo Wolf (FDP). In den vergangenen Wochen hätten sich zahlreiche Schulen und Schüler mit Hinweisen an die Polizei gewandt. Insgesamt wird derzeit in etwa 100 Fällen ermittelt.
In Emsdetten war Bastian B. (18) am 20. November schwarz gekleidet und schwer bewaffnet in die Geschwister-Scholl-Realschule gestürmt, »um ein Blutbad anzurichten«, wie er in seinem öffentlichen Abschiedsbrief schrieb. Frustration über »Markenzwang«, falsche Freundschaften und Perspektivlosigkeit hatten den Waffenfan nach eigenen Angaben zu der Tat getrieben. Am Ende seines Amoklaufes tötete sich der frühere Realschüler mit einem Schuss in den Kopf. Zurück blieben 37 verletzte Menschen, von denen vier mit Schussverletzungen behandelt werden mussten. Die übrigen hatten zum Teil schwere Vergiftungen erlitten, weil Bastian B. Rauchbomben in der Schule gezündet hatte.
Der Erleichterung darüber, dass in Emsdetten keine Schüler und Lehrer ums Leben gekommen waren, folgte eine nie dagewesene Serie von Amok- und Gewaltdrohungen an Schulen, die bis Weihnachten anhielt - und sich möglicherweise nach den Ferien fortsetzt. Dabei gehen die Ankündigungen weit über übliche anonyme Bombendrohungen hinaus, mit denen Schüler schon mal den Unterricht vorzeitig beenden wollen. Die Amokdrohungen, die nach Emsdetten im Internet veröffentlich werden, sind detailliert. Sie enthalten »Todeslisten« mit den Namen angeblicher Zielpersonen, oder erklären, wie man einen Sprengsatz bauen kann - um zu zeigen, dass hinter der Drohung tatsächlich etwas stecken könnte.
So etwas hatte es 2002 nach dem Amoklauf von Erfurt, bei dem der Gymnasiast Robert Steinhäuser (19) 13 Lehrer, zwei Schüler, einen Polizisten und schließlich sich selbst erschossen hatte, nicht gegeben. »16 unschuldige Opfer - da saß der Schock so tief, dass es offenbar niemand gewagt hat, als Trittbrettfahrer aufzutreten«, sagt Michael Biermann, Sprecher der Polizei in Paderborn. Sie ist eine von mehreren Polizeidienststellen in Ostwestfalen-Lippe, die in diesen Wochen mit dem Phänomen von Gewaltandrohungen zu tun haben. Vier Tage nach dem Amoklauf von Emsdetten ging in Verl ein Schüler (12) mit Brotmessern auf Mitschüler los und rief, er sei »der Auftragskiller« und »lege alle um«. In Paderborn ermittelt die Polizei gegen zwei 17 und 18 Jahre alte Schüler, die im Internet angekündigt hatte, zwei Mitschüler zu verletzen. Auch die Mindener Kripo ermittelt gegen zwei namentlich bekannte Schüler, die unabhängig voneinander Amokläufe angekündigt hatten, und in Halle fanden sich an den Türen eines Schulzentrums schriftliche Todesdrohungen gegen Lehrer.
»Schwarze Kleidung, Sonnenbrille, martialisch wirkende Waffen - wir können nicht ausschließen, dass diese Selbstdarstellung des Täters von Emsdetten im Internet auf einige frustrierte Jugendliche eine Faszination ausübt und wir deshalb so viele Trittbrettfahrer haben«, sagt ein Kriminalbeamter aus Ostwestfalen-Lippe, der im Fall einer Amokdrohung ermittelt. Die Tat von Sebastian B. werde vielleicht von den Trittbrettfahrern als »nicht so schlimm« angesehen, weil er niemanden getötet habe.
Rolf Bockwinkel, der Leiter der Heinz-Sielmann-Hauptschule in Oerlinghausen, wollte alles richtig machen, als er sich nach dem Amoklauf von Emsdetten entschied, das Thema nicht im Unterricht zu behandeln. »Emsdetten ist relativ weit weg, und wir wollten niemanden auf dumme Ideen bringen«, sagt der Schulleiter. Dann wurde ihm das Thema doch noch aufgezwungen: Eine Putzfrau fand am 8. Dezember einen anonymen Brief, in dem ein Unbekannter ankündigte, am nächsten Morgen etliche Schüler zu verletzen.
Sollte der Verfasser noch ermittelt werden, kann er nicht auf Milde hoffen: Zwei Schüler aus Remscheid müssen Weihnachten und den Jahreswechsel hinter Gittern verbringen. Sie waren am 14. Dezember zu drei Wochen Dauerarrest mit sofortigem Strafantritt verurteilt worden, nachdem sie im Internet angekündigt hatten, vier Lehrer zu erschießen.

Ein Beitrag von
Christian Althoff

Artikel vom 30.12.2006