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Innenpolitik

Koalition von der Wirklichkeit mehr gefordert als gefördert

»Man dachte, die können es besser, weil sie so stark sind«, bringt der Mainzer Politologe Jürgen Falter das Fazit der Deutschen nach einem Jahr großer Koalition auf den Punkt. Die Föderalismusreform brachte mehr statt weniger zustimmungspflichtiger Gesetze, bei der Gesundheit hakt es und Präses Alfred Buß von der Westfälischen Landeskirche kann die großen Würfe nicht so recht erkennen.


Auf der anderen Seite sinken die Arbeitslosenzahlen beharrlich, die vier Millionenmarke ist unterschritten, nicht nur Optimisten spielen gedanklich schon mit der Zahl 3,5. Käme nicht die Mehrwertsteuererhöhung, die zum Jahreswechsel 2006/2007 selbst vom Handwerk fast schöngeredet wird, die 3,5 könnte sogar zum Wachstumsziel für 2007 geraten.
Hin und her gerissen zwischen der seit langem anhaltenden Verlierer-Erfahrung und neuer Zuversicht in der Politik rückten die volkswirtschaftlichen Eckdaten 2006 zunächst fast unbemerkt in die Pluszone. Das übliche Politikergezänk verstellte dabei den Blick. Allein das Duo Angela Merkel und Franz Müntefering erwies sich als ruhender Pol im Auf und Ab der einsetzenden Veränderungen.
Kanzlerin und Vize-Kanzler trinken nicht nur gemeinsam Tee, sie schreiben sich - neugierig beäugt vom eigenen Umfeld - rege SMS per Handy. Dabei treten sie öffentlich kaum als Traumpaar auf. Aber die lange Zurückhaltung des homo politicus Müntefering, als Jürgen Rüttgers von August bis November die Schlagzahl in der Sozialstaatsdebatte allein vorgab, spricht Bände.
Auch Merkels Art souveräner Moderation wurde den deutschen Managern spätestens nach einem Energiegipfel im Kanzleramt deutlich: »Bei Schröder war mehr Stimmung, bei Merkel kommen alle zu Wort«, bemerkte einer der Teilnehmer. Mehrfach bewies die geschickt taktierende Ostdeutsche, dass sie ganz ohne Basta das letzte Wort behält.
Als SPD-Chefunterhändler bei den Koalitionsverhandlungen hatte Müntefering noch aus den eigenen Reihen viel Widerspruch geerntet wegen der Verteilung der Ministerposten. Zukunftsfelder wie Familie und Bildung habe er der Union überlassen und sich undankbare Ressorts wie Finanzen, Arbeit oder Gesundheit unterjubeln lassen, hieß es. Inzwischen hat sich Münteferings damalige Gegenrede bestätigt: Mit exakt diesen Schlüsselressorts entscheidet sich das Gewicht der Sozialdemokraten in der Koalition.
2006 begann die Kanzlerin mit einem kleinen außenpolitischen Paukenschlag. Vor ihrem Antrittsbesuch bei US-Präsident George W. Bush verlangte sie die Schließung des umstrittenen US-Gefangenenlagers Guantánamo auf Kuba. Statt kalter Schulter zeigte Bush fast so galant wie Jacques Chirac mit seinem Handkuss für die »Chancelière« Höflichkeit gegenüber der Neuen auf der Weltbühne: »Sie ist smart und charmant.«
Mit deutlich mehr Abstand begegnete Merkel darauf Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Sie sprach mit Bürgerrechtlern und korrigierte so das Bild vom »lupenreinen Demokraten« (Gerhard Schröder).
Daheim präsentierte Vizekanzler Müntefering im Februar die Rente mit 67 im Kabinett, setzte deren Vorziehen um sechs Jahre durch und brachte den Sprengsatz erschütterungsfrei übers Jahr. Für Merkel maß der ARD-Deutschlandtrend den historisch höchsten Beliebtheitswert für einen Kanzler - 80 Prozent der Deutschen waren mit ihrer Arbeit zufrieden. Die Messzahl aus dem Februar schmolz bald wieder ab, aber sie markierte einen Stimmungswandel, den niemand für möglich gehalten hatte.
Stühlerücken in der SPD: Nach dem unerwarteten Rückzieher des Vorsitzenden Matthias Platzeck wurde am 10. April sein Stellvertreter Kurt Beck neuer Parteichef und wenig später erreichte die Union im ZDF-Politbarometer ihr Jahreshoch von 42 Prozent. Die SPD rutschte auf 31 Prozent ab.
In einer nächtlichen Runde Anfang Mai unterlief Merkel der erste gefährliche Schnitzer. Ein vielen zu leichtfertiger Kompromiss beim Antidiskriminierungsgesetz führte in den Unionsparteien zu heftigen Protesten. Etwas geschmeidiger wurden bei der gleichen Gelegenheit Elterngeld und Reichensteuer auf den Weg gebracht.
Erstmals zogen unmittelbar vor den Parlamentsferien dann dunkle Wolken über der Koalition auf. SPD-Fraktionschef Peter Struck nannte Gerhard Schröder en passant den »besseren Kanzler«. Nach zehnstündigen Beratungen einigte sich die Koalitionsspitze am 3. Juli dann auf Eckpunkte der Gesundheitsreform, an denen vor allem die Union schwer zu schlucken hatte. Eine kleine Koalitionskrise statt des üblichen Sommertheaters war die Folge. Der SPD-Politiker Johannes Kahrs ging die Kanzlerin als angebliches Hauptproblem der Koalition sogar verletzend an. »Der Fisch stinkt immer vom Kopf her.«
Versöhnlicher wurde es dann wieder durch den Gegenbesuch von US-Präsident Bush zum Grillabend in Merkels Wahlkreis. Selbst der selten in Erscheinung tretende Ehemann Joachim Sauer stand seiner Frau zur Seite.
Am 2. August löste CDU-Vize Jürgen Rüttgers besagte Debatte um soziale Gerechtigkeit und vermeintliche Lebenslügen der Partei aus. Später berichtete Rüttgers, dass sein Interview mit dem Magazin »stern« eigentlich »einen anderen Aspekt«, er sagte nie welchen, in die Diskussion bringen sollte. Aber der Lauf der Dinge bis zum CDU-Bundesparteitag Ende November in Dresden entsprach ganz seinem Geschmack. Der in NRW nunmehr eineinhalb Jahre unfallfrei regierende CDU-Ministerpräsident konnte selbst einen Rückschlag bei der Stellvertreterwahl zum CDU-Vorsitz lässig wegstecken. Er hatte für die Union verlorene soziale Glaubwürdigkeit zurückgewonnen. Weder Edmund Stoiber noch sonst ein Ministerpräsident aus der Riege der Merkel-Männer hatte das je hinbekommen.
Gerade erklärte das US-Magazin »Forbes« Merkel Anfang September zur »mächtigsten Frau der Welt«, da musste die Koalitionsspitze die Gesundheitsreform von Januar auf April 2007 verschieben. Urplötzlich geriet die Reformkraft der Koalition bei vielen in Zweifel. Das spiegelte die nächste Forsa-Umfrage sofort wider. Die Union rutschte erstmals seit der CDU-Spendenaffäre unter die 30-Prozent-Marke. Aus den 29 Prozent wurden Ende des Jahres wieder 38 Punkte, aber fern der Wahlen haben Zahlen derzeit nur wenig Erregungspotenzial.
Der 2. November wurde zum großen Tag der großen Koalition. Nürnberg meldete den niedrigsten Stand in der Arbeitslosigkeit seit fast vier Jahren. Gleich am nächsten Tag legte die Regierung noch einen drauf und kündigte an, 2007 werde die Neuverschuldung auf den niedrigsten Stand seit 1990 gesenkt, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung könnten jetzt noch stärker gesenkt werden.
Hätte Bundespräsident Horst Köhler nicht wenig später zum zweiten Mal einem Bundesgesetz wegen handwerklicher Fehler seine Unterschrift verweigert, wäre zum Jahresschluss bei den solcherart Blamierten wieder leise Allmacht-Stimmung aufgekommen. Die Koalition wurde von der Realität stets mehr gefordert als gefördert.
»Zu meinen, dass die große Mehrheit zu großen Reformen führt, ist ein Irrtum«, stellt deshalb auch der Göttinger Politologe Peter Lösche ernüchtert fest. Das Volk habe das begriffen - ein Stück »Realitätsgewinn«.
Nun werde den Deutschen klar, dass eben auch Lobbyisten, die Länder, das Bundesverfassungsgericht und innerparteiliche Kämpfe eine Rolle spielten. Menschen wie Macher gewannen 2006, mit den Worten von Lösche, »Einsicht in die knallharte politische Wirklichkeit«.

Ein Beitrag von
Reinhard Brockmann

Artikel vom 30.12.2006