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»Nicht so tun, als ob die Türkei den europäischen Wertekanon übernehmen würde.«

Leitartikel
Steinmeiers Flecken

Den Riss per Kreuznaht schließen


Von Jürgen Liminski
Soviel Nahtlosigkeit war nie. Nicht einmal Haarrisse seien auszumachen, meinte der Regierungssprecher, nachdem der deutliche Gegensatz in der Türkei-Politik zwischen CDU und vor allem CSU auf der einen und der SPD auf der anderen Seite nicht mehr zu verbergen gewesen war.
Denn das pfeifen die Berliner Spatzen von allen Dächern: Außenminister Frank-Walter Steinmeier will die Türkei als Vollmitglied in die EU aufnehmen, die Union ist dagegen. Schon als Kanzleramtschef unter Schröder hatte Steinmeier auf dieses Ziel hingearbeitet. Er würde sich verleugnen, wenn er nun anders dächte. Aber einen Koalitionskrach will die SPD deswegen auch nicht riskieren, schon gar nicht so kurz vor der EU-Präsidentschaft, in der Steinmeier als Außenminister manche Akzente setzen kann. Also entscheidet man sich für die vorläufige Nahtlosigkeit.
Nahtlos ist auch die Übereinstimmung zwischen SPD-Chef Kurt Beck und dem Außenminister. Das darf man diesmal auch glauben. Beck und Steinmeier ziehen am selben Strang, an dessen Ende der Wahlsieg für die SPD und die Wiedereroberung des Kanzleramtes steht. Dafür braucht man die Stimmen der türkischstämmigen Wähler. Diese Frage wird also noch lange nahtlos im Raume stehen.
Erst wenn die Koalition platzt oder der Wahltermin in greifbare Nähe rückt, werden die Gegensätze auch offen benannt werden. Bis dahin wird es bei ebenso salbungsvollen wie folgenlosen Sätzen bleiben wie: »Die Debatte über die Türkei ist mit Augenmaß und Vernunft und vor allem Verantwortung für die langfristigen Interessen Europas zu führen.« Oder: »Ich bin der Meinung, dass wir das, was in langen Jahren gewachsen ist, nicht innerhalb von wenigen Tagen zerstören sollten.« Na toll. Wer will das eigentlich?
Entlarvend ist dagegen eine andere Satzschablone Steinmeiers: »Die Einbeziehung der Türkei in den europäischen Wertekanon ist ein Projekt von ganz herausragender Bedeutung.« Als ob die Truppe Erdogan den europäischen Wertekanon übernehmen würde und nicht vielmehr versuchen wird, Europa den islamischen Wertekanon namens Scharia überzustülpen. Dass dabei auch mal schamlos gelogen wird, zeigte der Besuch des Papstes in der Türkei. Skrupellos behauptete Erdogan, der Papst befürworte eine volle Mitgliedschaft der Türkei. Vatikansprecher Lombardi dementierte diplomatisch, aber deutlich.
Der Gipfel wird nun die nahtlose Übereinstimmung zwischen der Position der Kanzlerin und der EU-Kommission in eine Kommunique-Form bringen. Steinmeiers Position wird vor allem geteilt von den spanischen Sozialisten und den Briten, die sowieso nur eine Freihandelszone anstreben.
Die anderen sind für die partielle Aussetzung und die einjährige Kontrolle der Verhandlungsergebnisse. Damit entpuppt sich Steinmeiers Türkei-Politik als Riss oder Flecken in Europas Gewand. Das kann man nur noch übernähen, am besten mit einer Kreuznaht.

Artikel vom 14.12.2006