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Es tat noch immer schrecklich weh, an die letzten Stunden ihrer Kinder zu denken. Dieser Schmerz würde wohl nie aufhören. Anna fühlte was in Elise vorging und nahm sie behutsam in den Arm, „es geht ihnen gut Elise, es geht ihnen gut, erinnere dich, was dein Vater vor seinem Tod gesehen hat: Deine verstorbene Mutter, die mit Heinrich und Wilma auf ihn zukommt, das war ein Zeichen von Gott für dich. Glaube mir, er wollte dir durch deinen Vater sagen, dass deine Kinder bei ihm sind. Es müssen besondere Kinder gewesen sein, dass er sie so früh zu sich geholt hat.“



J
a ich weiß, Anna, ich sage es mir ja auch immer wieder, aber ich kann keinen Sinn darin erkennen, warum sie so traurig und einsam sterben mussten. Nein, sie waren so unschuldig, wenn er uns auch strafen wollte, für die Mitschuld am Krieg und Leid, das sehe ich alles noch ein, aber sie, warum durften sie nicht in meinen Armen einschlafen, warum so verzweifelt und einsam? Das hatten sie nicht verdient. Ich werde nie damit fertig Anna, ich darf nicht daran denken, sonst werde ich verrückt. Und nun gehst du auch noch weg, zu wem soll ich gehen, wenn diese schreckliche Traurigkeit wieder über mich kommt? Oma Möller ist tot und du bist weit weg.“ „Sprich mit Wilhelm, er wartet nur darauf, glaube mir, ich habe ihn beobachtet. Er leidet darunter, dass du ihn aus deiner Trauer ausschließt. Und auch mit deinen Kindern kannst du schon reden. Sie verstehen mehr als du denkst.“



E
lise weinte an Annas Schulter und Anna sagte: „Ich bin ja nicht aus der Welt, wir werden uns schreiben und wenn ich Urlaub bekomme, werde ich Euch in den Ferien mit Berthold besuchen. Und im Winter, wenn ihr nicht so viel Arbeit habt, kannst du mich doch auch in Frankfurt besuchen.“ „Au ja,“ hörten sie Helma, die inzwischen wieder zurückgekommen war und schon eine Weile in aller Stille ihren Geschwistern ihre Gedanken mitteilte. „Darf ich dich auch besuchen, Tante Anna?“ „Natürlich kommst du mit der Mama mit, ich will doch sehen, wie du gewachsen bist und hören, wie du in der Schule mitkommst. Und dann will ich dir doch auch die große Stadt zeigen.“ Helma strahlte, na das waren doch gute Aussichten. Doch jetzt mussten sie erst mal die Mama trösten.


S
ie schmiegte sich in Elises Arm und sagte: „Wein doch nicht, Mama, sie haben es gar nicht gern, wenn du weinst, Konrad und ich sind doch extra hier unten geblieben, damit du nicht allein und traurig bist. Du hast doch selbst gesagt, wie wunderschön es im Himmel ist. Und wenn du immer weinst, dann können sie gar nicht richtig glücklich sein, das hat Tante Elisabeth auch gesagt. Hör auf zu weinen Mama, wir wollen jetzt nach Hause gehen und Abschied feiern mit Tante Anna und Berthold. Bestimmt warten schon alle auf uns.“ Elise wischte sich die Tränen ab, nickte zu dem Grab ihrer Kinder hin und flüsterte: „Auf Wiedersehen Heinrich, auf Wiedersehen Wilma,“ und ging dann mit Anna und Helma zurück zum Hof.



E
s wurde ein besinnlicher, melancholischer Abend, an dem viel über die Vergangenheit, aber noch mehr über die Zukunft geredet wurde. Um zehn Uhr wünschten sich alle eine Gute Nacht, denn am nächsten Morgen mussten sie früher als sonst aufstehen, Wilhelm wollte die Beiden noch vor der Stallarbeit zum Bahnhof fahren. Diese letzte Nacht in Niederbach schliefen Anna und Berthold sehr schlecht, der Abschied von diesem Dorf und seinen Menschen und die Vorfreude auf ihren Neuanfang in Frankfurt ließ beide nicht zur Ruhe kommen. Um halb fünf in der Frühe standen sie auf, packten Bertholds Bett in den Sack, die Nachtkleider und ihre Waschsachen noch in den Koffer und trugen das Gepäck runter in den Flur.



D
ann gingen sie zum Frühstück zu Trebeiss in die Küche. Dort saßen schon alle am Tisch, sogar Konrad und Helma waren aufgestanden, um Anna und Berthold noch einmal zu sehen und sie gebührend zu verabschieden. Anna gab Elise das gerahmte Foto, welches sie hatte machen lassen. Damit Konrad es nicht hören konnte, flüsterte Elise Anna zu, dass sie ihr bald auch ein Foto vom Hof und der ganzen Familie schicken würden. Denn sie und Wilhelm wollten Konrad zu seiner baldigen Konfirmation einen Fotoapparat schenken und dann sollte er sie alle fotografieren.



U
nd das erste gelungene Foto von uns allen, bekommst du,“ sagte Elise und drückte Anna zum Abschied noch einmal so fest sie konnte an sich. Sie mochte die Freundin gar nicht los lassen. Auch die übrige Familie und sogar die Nachbarn, drückten Anna und Berthold noch einmal und wünschten ihnen alles Gute für die Zukunft in der großen Stadt. Dann drängte Wilhelm, denn der Zug nach Frankfurt würde nicht warten. Sie mussten endlich losfahren. Schnell war das Gepäck verstaut, Anna setzte sich in die Kutsche und Berthold zu Wilhelm auf den Kutschbock. Dabei kam ihm die Kutschfahrt mit Marek wieder in Erinnerung. Nur dass ihm diesmal der Abschied nicht so schwer fiel. Am Bahnhof half ihnen Wilhelm, das Gepäck zum Bahnsteig zu tragen, aber dann musste er sich auch schon verabschieden. Das Vieh wartete, wollte gemolken und gefüttert werden, so konnte er nicht auf die Abfahrt des Zuges warten, der Anna und Berthold nach Frankfurt bringen würde.


E
r umarmte beide verlegen und ungeschickt, solche Szenen waren nicht sein Ding, dann stieg er auf den Kutschbock, winkte noch einmal und fuhr zurück nach Niederbach. Anna und Berthold sahen ihm nach und so, wie Wilhelm ihren Blicken entschwand, wurde auch ihre Zeit in Niederbach endgültig zur Vergangenheit. Als aus dem Bahnhofslautsprecher die Ansage kam: „Der Zug aus Kassel, der um 6 Uhr 25 in Richtung Franfurt weiterfährt, hat Einfahrt auf Gleis 3,“ sahen sie sich glücklich an, dieser Zug brachte sie in eine verheißungsvolle Zukunft!












(ENDE)

Artikel vom 28.12.2006