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Anna wusste zwar, dass keiner in der Familie Trebeis je so gedacht hatte, aber für sie selbst war es immer schwer gewesen, in der Situation einer Bittstellerin zu leben. Jetzt würde sie ihren und Bertholds Lebensunterhalt vollständig selbst verdienen, wenn sie auch sparsam sein mussten, um den Vorschuss zurückzuzahlen. Doch war das kein Problem, denn dieses Schicksal teilte sie mit vielen anderen, die in der gleichen Situation waren wie sie. Der Aufbau der Bundesrepublik Deutschland ging schnell voran, Arbeitskräfte waren begehrt und Anna würde mit ihren Sprachkenntnissen zu den gut verdienenden Angestellten gehören. Sie übernachteten in einer billigen Pension in der Nähe des Bahnhofes und gingen am nächsten Tag in ein Möbelhaus und suchten das allernötigste Mobiliar für die Wohnung aus. Man vereinbarte, dass sie Ende März geliefert und aufgestellt werden sollten.

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amit hatten sie alles erledigt und konnten zurück nach Niederbach fahren. Doch Anna hatte eine Idee, sie ging mit Berthold noch in ein Fotostudio und ließ sich zusammen mit ihrem Sohn fotografieren. Sie bestellte bei dem Fotograf auch gleich drei Bilderrahmen und bat ihn, ihr die gerahmten Bilder zuzuschicken. Hochzufrieden verließen sie das Studio. Sie würde Elise eines der Bilder zum Abschied schenken und einen Dankesbrief dazu schreiben. Das zweite sollte Berthold nach Polen, an Marek und Lydia schicken und das dritte, wollte sie selbst behalten. Im Bahnhofsrestaurant bestellten sie sich, in Erinnerung an ihr Wiedersehen in Friedland, jeder eine Bouillon mit Brötchen und eine Flasche Wasser. Anna war rundum glücklich, Und jetzt endlich entschloss sie sich, in den nächsten Tagen einen Brief an Gerda zu schreiben, um sich mit ihr zu versöhnen, sie vielleicht sogar noch zu besuchen, bevor der Umzug nach Frankfurt kam. Ja, sie wollte Frieden mit allen Menschen schließen, es ging ihr so gut, das Leben war so schön, da sollte der letzte Rest von Groll aus ihrem Herzen verschwinden. Sie dachte an all die Menschen, die ihr etwas bedeuteten und wünschte ihnen voller Inbrunst alles Gute und Gottes Segen, so wie sie ihn erfahren hatte.

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er Abschied von Niederbach fiel Anna doch schwerer als sie gedacht hatte. Am Tag vor ihrer Abreise hatte sie die ganze Familie Trebeis noch einmal zu Kaffee und Kuchen zu sich eingeladen, auch Frau Friedrich war gekommen und brachte einen riesigen Koffer mit. „Ich brauche ihn sowieso nicht,“ sagte sie. „Weder ich, noch mein Mann verreisen gerne. Unsere Verwandtschaft wohnt maximal fünf Kilometer von uns entfernt, da brauchen wir keinen Koffer. Er stammt noch von meinem Schwiegervater, aber fragt mich nicht, wo der ihn her hat. Jetzt findet das Teil endlich mal eine sinnvolle Verwendung. Schließlich sollt ihr nicht mit Pappkartons reisen. Anna freute sich, denn in diesen Koffer würde viel hineinpassen. Außerdem hatte sie noch den kleinen Koffer, mit dem sie hier angekommen war und Berthold hatte den Koffer, den ihm Marek und Lydia mitgegeben hatten.

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n diesen wollte er unbedingt die blaue Strickjacke seiner Mutter packen, sie gehörte dort hinein, sie war ein Stück lebenswichtige Wärme und Liebe seiner Mutter für ihn gewesen, in den Jahren, die er bei Marek und Lydia gelebt hatte. Anna verstand ihn sehr gut und legt sie ihm in den Koffer. Die Bettdecke und das Kopfkissen, welches sie von Elise zu Weihnachten bekommen hatte, packte Wilhelm in einen Getreidesack, den er oben fest zuband und die Schnur dann an einem der unteren Sackecken festknotete. So sah er aus, wie der Seesack eines Matrosen. Berthold, der größer und stärker war als sie, würde den großen Koffer, den Rucksack und den „Seesack“ tragen.

Und Anna wollte neben ihrer Umhängetasche noch die beiden anderen Koffer nehmen. „Mit wie wenig bin ich doch hier angekommen,“ dachte Anna, „und jetzt muss ich überlegen, wie wir alles tragen sollen, was uns wichtig scheint und was wir unbedingt mitnehmen wollen.“
Elise bat Anna, doch noch einmal am Abend mit ihr zum Grab ihrer Kinder zu gehen, dorthin, wo sie sich kennen gelernt hatten. Anna nickte zustimmend, auch sie hatte schon daran gedacht. Da meldete sich schüchtern Helma: „Darf ich auch mit zum Friedhof gehen?“ Ihr fiel der Abschied von Anna und Berthold sehr schwer, besonders von Berthold, denn sie hatte sich zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt. Wenn ihr das auch nicht bewusst war, sie war gerade zehn Jahre alt geworden und schwärmte den nun bald sechzehnjährigen Berthold an. Da sie als Zwilling immer die Sehnsucht nach Zweisamkeit hatte und ihr Bruder ihr unmissverständlich klar gemacht hatte, dass er sie nie heiraten könne, hatte sie nun auf

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erthold gehofft. Sie konnte nicht anders, alle Menschen, die mit auf dem Hof lebten, sortierte sie paarweise in ihrem Kopf zusammen. Doch nicht nur die Menschen, auch die Tiere, so fand sie es sehr befriedigend, dass Hector und Paula, die Ackerpferde, zusammen gehörten, ebenso die beiden Kutschpferde. Auch die Katzen wurden von ihr in Zweiergemeinschaften gesehen. Wenn ein Mensch oder Tier allein war, fand sie das unerträglich. So war es sehr befriedigend für sie gewesen, als Berthold gekommen war und somit mit Anna ein Paar bildete. Auch die Nachbarsfamilie war für sie in Ordnung. Dort lebten eine Witwe mit ihrer Schwiegermutter, für Helma ein Paar, und die beiden Töchter, ebenfalls ein Paar. Ebenso gehörte ihre Tante Elisabeth mit dem Knecht Adam zusammen, jedenfalls saßen sie am Tisch nebeneinander und damit war Helma zufrieden.

Kein Einzelwesen störte die Harmonie, die ihr so wichtig war. Nun würden Anna und Berthold weggehen. Und wenn sie groß war, musste sie auch weggehen, vielleicht könnte sie dann ja auch nach Frankfurt gehen und dort Berthold heiraten. Aber dann wäre Anna wieder allein, „aber wenn wir ein Kind kriegen, dann stimmt es wieder, dachte sie erleichtert, Anna und das Kind, Berthold und ich, oder, Anna und Berthold, das Kind und ich. Egal wie, Hauptsache, keiner ist allein. Ich werde mit Berthold eine Brieffreundschaft haben, bis ich groß genug bin, um ihn zu heiraten.“

Natürlich durfte Helma nach der Stallarbeit und dem Abendessen, an dem heute Abend auch Anna und Berthold teilnahmen, mit zum Friedhof. Konrad und Berthold wollten noch einmal ins Dorf gehen, weil sich Berthold von einigen Freunden verabschieden wollte. Die Luft roch schon nach Frühling, aber auf dem Grab von Wilma und Heinrich blühten noch Schneeglöckchen und Märzenbecher. Helma spürte, dass die beiden Frauen traurig waren und dass sie irgendwie störte. Also begrüßte sie wie gewohnt nur schnell ihre Geschwister, aber ganz leise, nur für sich, sie tat es schon lange nicht mehr laut, wie früher. Denn die beiden konnten auch ihre Gedanken hören, das hatte Papa ihr gesagt. Also dachte sie: „Guten Abend Heinrich, guten Abend Wilma, ich gehe jetzt mal an das Grab von Oma Möller, dann komme ich wieder und erzähle euch alles. Jetzt wollen Mama und Tante Anna mit euch allein sein. Also, bis gleich.“ Und laut sagte sie zu Elise: „Mama, ich gehe mal an das Grab von Oma Möller, ich hab ihr viel zu erzählen, ich komme aber dann wieder hierhin, weil ich auch mit Heinrich und Wilma noch sprechen muss,“ damit ging sie davon.

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lise sah ihr lächelnd nach, wie sehr sie ihre kleine Tochter liebte! Was hatte dieser dösige Lehrer noch gesagt? „Ihre Tochter, Frau Trebeis, ist leider etwas zurückgeblieben.“ Nein, Helma bekam mehr mit, als die meisten Erwachsenen, sie hatte ein feines Gespür für die Stimmungen anderer Menschen, nein, zurückgeblieben war sie weiß Gott nicht. Dann wandte sie sich dem Grab zu und sandte ebenso wie Helma es tat, ihren Kindern soviel Liebe zu wie sie nur konnte, wo immer ihre Seelen weilten, sie würden es spüren. Ganz versunken war sie, immer wieder darüber grübelnd, warum Gott dies zugelassen hatte.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.12.2006