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Endlich wusste Anna, wie die Menschen aussahen, die ein Teil von Bertholds Leben waren. Sie bemerkte, dass Bertholds Augen feucht wurden und dann zog er sich mit dem Foto in sein Zimmer zurück. Es tat ein kleines bisschen weh, dass ihr Junge wohl doch manchmal so etwas wie Heimweh nach dieser Familie hatte. Aber sie verstand es und als er wieder aus seinem Zimmer kam, tat sie als hätte sie nichts bemerkt. Auch Berthold und Anna hatten ein Päckchen an Marek und seine Familie geschickt und hofften nun, dass es auch angekommen war. Anna bat Berthold, ihr doch noch von den Weihnachtsfesten bei Marek und Lydia zu erzählen. Erleichtert, dass Anna ihm die Zuneigung zu diesen Menschen nicht übel nahm, fing er mit leuchtenden Augen an zu erzählen.

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nna konnte immer wieder nur denken, welch ein Glück es gewesen war, dass ausgerechnet Marek es gewesen war, der Berthold gefunden hatte. Und je mehr sie über diese Familie erfuhr, um so mehr schloss sie diese Menschen in ihr Herz. Am nächsten Tag setzten sich beide hin und jeder schrieb einen Brief an sie. Berthold spürte, dass seine Mutter seine Gefühle für Marek, Lydia und ihre Kinder verstand und allmählich sogar teilte. Dafür liebte er sie noch mehr. Es war schön, keine Gefühle unterdrücken zu müssen, weil man Angst hat, jemandem weh zu tun, und noch schöner, wenn man diese Gefühle mit dem Menschen, den man am meisten liebt, teilen kann. Ihre Beziehung hätte nicht inniger sein können.

Im Februar 1955, Anna stand vor ihrer Abschlussprüfung der Industrie- und Handelskammer, wurden sie und andere Teilnehmer der Schulung zum Direktor der Kammer gerufen. Er teilte ihnen mit, dass er für sie alle Arbeitsplätze im Rhein-Main-Gebiet habe. Auch seien neue Wohnanlagen in den entsprechenden Gebieten gebaut worden, so dass sie keine Schwierigkeiten haben würden, geeigneten Wohnraum zu finden. Das war natürlich eine Nachricht wie ein Paukenschlag. Sie hatten zwar alle gewusst, dass mit der Ausbildung auch ihr baldiger Umzug zu einem Arbeitsplatz verbunden war. Doch es ist ein Unterschied, nur davon zu reden, oder es in die Tat umzusetzen. Alle redeten aufgeregt durcheinander und freuten sich, endlich aus der Situation der Almosenempfänger heraus zu kommen. Viele waren auch froh, die ihnen zugewiesenen Wohnräume, bei Menschen die sie nicht gewollt hatten, verlassen zu können. Denn nicht alle hatten ein so gutes Verhältnis zu ihren Wirtsleuten, wie Anna.

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etzt war es also bald soweit, Mitte März waren die letzten Prüfungen und zum 1. April sollten einige schon den neuen Arbeitsplatz antreten. Zu ihnen gehörte auch Anna, der man einen Arbeitsplatz als Auslandskorrespondentin in einer großen Pharmazie-Firma in Frankfurt anbot. Sie würde ein sehr gutes Gehalt bekommen und außerdem von der Firma eine günstige Dreizimmer-Wohnung mit Küche, Bad und einem kleinen Balkon. Es bestehe sogar die Möglichkeit, in der Nähe der neuen Wohnanlage, einen Schrebergarten zu bekommen, für verhältnismäßig wenig Geld. Anna war begeistert und konnte es kaum abwarten, Berthold die gute Nachricht zu überbringen. „Marek hat recht,“ dachte sie, „Berthold ist ein Glücksbringer, seit er wieder bei mir ist, läuft alles zum Besten. Gottes Segen ruht auf uns.“ Sie verabschiedete sich von den aufgeregten Mitschülern und sauste davon, um Berthold an der Bushaltestelle zu treffen.

Sie sah ihn schon von weitem auf der Bank an der Haltestelle sitzen und in einem Buch blättern. Anna freute sich auf sein Gesicht, wenn sie ihm die guten Nachrichten mitteilen würde. Doch noch ehe Anna in Bertholds Blickfeld kam, stürzte ein junges Mädchen auf Berthold zu, schob ihm einen Zettel in die Hand und rannte wieder davon.

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ie sah, wie Berthold verdutzt hinter ihr herschaute und dann den Zettel las. Ein Grinsen überzog sein Gesicht und er steckte den Zettel in seine Jackentasche. Als er wieder aufblickte, sah er Anna kommen und winkte ihr fröhlich zu. „Na, du hast wohl eine Eroberung gemacht,“ begrüßte ihn Anna und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Berthold war ein gut aussehender Junge und sie konnte sich denken, dass eine Menge Mädchen für ihn schwärmten. „Ach Mama,“ sagte Berthold verlegen, über diese Dinge wollte er nun wirklich nicht mit seiner Mutter sprechen.

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nna spürte einen leisen Stich von Eifersucht in ihrem Inneren, ihr war klar, dass ihr nur wenige Jahre mit Berthold allein geschenkt waren, früher oder später würde ein Mädchen den ersten Platz in seinem Herzen einnehmen, das war der Lauf des Lebens. „Aber bitte, lieber Gott, lass ihn mir wenigstens noch ein paar Jahre, ich habe so lange auf ihn verzichten müssen. Bitte, lass ihn noch nicht so schnell erwachsen werden.“ So betete Anna ein schnelles, stilles Gebet.

Aber dann gewann die Gegenwart wieder die Oberhand in ihrem Denken und sie sprudelte all die guten Neuigkeiten heraus, die ihrer Beider Zukunft betrafen. Berthold starrte sie mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund an, als wolle er diese Nachricht, nicht nur mit den Ohren, sondern mit allen Sinnesorganen aufnehmen. Als ihm klar wurde, was das, was Anna ihm erzählte, für seine Zukunft bedeutete, stieß er ein Freudengeheul aus, dass die anderen Menschen, die an der Bushaltestelle warteten, ihn missbilligend ansahen. Doch weder ihn noch Anna störte das.

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ie fielen sich in die Arme und tanzten einmal um die Bank herum. Dann ließen sie sich lachend wieder auf die Bank fallen und Anna musste alles noch einmal genau erzählen. Berthold konnte es nicht fassen, er würde sein Abitur in Frankfurt machen, sie würden eine eigene Wohnung haben. Und er würde später studieren können. In einer Stadt wie Frankfurt, musste es doch leicht sein, in den Semesterferien einen Job zu finden, in dem er Geld für die Zeit des Studiums verdienen konnte, damit Anna nicht alles zahlen musste. Sie sahen die Zukunft rosarot. Fast hätten sie in der Aufregung die Abfahrt ihres Busses verpasst.

Als sie wieder auf dem Hof ankamen, konnte Anna es nicht länger aushalten, sie musste die Neuigkeit, ihrer besten Freundin, Elise, mitteilen. „Berthold, koch uns doch schon einmal einen Kaffee, der Kuchen steht im Schrank, ich komme gleich hoch, ich will es nur schnell Elise erzählen.“ Elise stand vor der Haustür auf dem Hof und wusch die Milchkannen aus. Als Anna sie von hinten ansprach, erschrak sie, freute sich aber dann, die Freundin zu sehen. „Na, du strahlst ja, als hättest du einen Goldschatz gefunden.“ „Ach, Elise, ich bin so glücklich, stell dir vor, ich habe eine Arbeit als Fremdsprachenkorrespondentin gefunden. In Frankfurt! Und wir bekommen auch eine Dreizimmer-Wohnung, mit Küche, Bad, Balkon und Zentralheizung. Und wenn ich will, kann ich auch eine Parzelle in einer nahen Schrebergartenanlage haben. Was sagst du, ist das nicht wunderbar?“ Elise war erst einmal sprachlos, zu plötzlich kamen diese Neuigkeiten.

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ch du liebe Zeit, Anna, wie ist das denn alles so schnell gekommen? Und Frankfurt, diese große Stadt! Und wir sehen uns dann ja gar nicht mehr! Ach Gott, ach Gott, nee, nee, was soll ich da jetzt sagen, wir trinken gleich Kaffee und dann muss ich ja in den Stall. Kannst du nicht heute Abend nach dem Essen rüberkommen und uns alles ganz genau erzählen? Dann haben wir doch mehr Ruhe.“ „Ja, gerne Elise, dann kann ich es gleich allen erzählen, aber du solltest es zuerst erfahren.“ „Danke, Anna, darüber freue ich mich auch, also dann bis heute Abend,“ nickte sie Anna liebvoll zu. Berthold hatte den Kaffeetisch schon gedeckt und sie feierten mit Kaffee und Kuchen, den Beginn eines neuen Lebensabschnittes. Als Anna abends zu Trebeiss ging, wollte Berthold nicht mit, sondern die Zeit nützen und einen langen Brief nach Polen schreiben, denn diese Neuigkeiten sollten Marek und Lydia doch ebenfalls ganz schnell erfahren.

Die letzten Wochen in Niederbach vergingen wie im Flug. Anfang März waren Berthold und Anna für zwei Tage nach Frankfurt gefahren, damit Anna sich an ihrem neuen Arbeitsplatz vorstellen und den Arbeitsvertrag unterschreiben konnte. Vom Arbeitgeber bekam sie einen Vorschuss, damit sie sich Möbel für die Wohnung kaufen und für den ersten Monat bis zur Gehaltsauszahlung die Miete für die Wohnung zahlen konnte. Der Betrag würde dann in geringen Monatsraten von ihrem Gehalt abgezogen.

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om Arbeitgeber fuhren sie direkt zur Verwaltung der großen Wohnanlage in der ihre neue Wohnung lag. Anna und Berthold waren von der Wohnung begeistert und Anna unterschrieb den Mietvertrag mit Freuden. Als der Verwalter ihr dann die Wohnungsschlüssel aushändigte, damit sie schon in der Wohnung ausmessen könne und auch Möbel geliefert werden könnten, war es ein unbeschreibliches Glücksgefühl, endlich eine eigene Wohnung, ein Zuhause zu haben, aus dem man nicht jederzeit wieder weggeschickt werden konnte, weil man ja aus Gnade und Barmherzigkeit aufgenommen worden war. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.12.2006