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Berthold grinst seiner Mutter zu und geht mit der Kleinen die Treppe hinab. Anna greift sich die Tüte mit den Zuckersteinen und geht hinterher. Es wird ein schöner Abend und Berthold gewinnt alle für sich. Besonders zu Konrad, der ja nur drei Jahre jünger ist als er, findet er schnell Kontakt. Konrad wird ihn Montag früh zur Schule abholen. Helma ist neidisch auf ihren Bruder, sie hätte das so gern gemacht, aber Jungens gehen eben lieber mit Jungens.

Der erste Schultag in Niederbach ist aufregend für Berthold. So viele Kinder, die alle auf ihn einreden und jedes möchte sein Freund sein, denn als Neuer ist er für alle interessant. Er schreibt in jedem Fach einen kleinen Test und das Ergebnis ist gar nicht so schlecht. Einer der beiden Lehrer bietet ihm an, ihm in den Fächern, in denen er etwas nachhinkt, Nachhilfeunterricht zu geben. An zwei Tagen in der Woche, nachmittags zwei Stunden. Berthold nimmt dieses Angebot dankbar an und nach wenigen Wochen hat er den Stand der Klasse erreicht, sodass er dem baldigen Schulabschluss gelassen entgegensehen kann. Doch was dann? Er hatte dann nur einen Volksschulabschluss. Das nächste Gymnasium war in Fritzlar, der 20 Kilometer entfernten Kreisstadt. Das hieß, dass er mit dem Bus fahren musste, wenn sie ihn überhaupt aufnahmen, was sehr fraglich war, denn im Normalfall wechselten die Schüler nach der vierten Klasse Grundschule zum Gymnasium. Und der Lehrstoff dort war umfangreicher, als der, den er in den letzten vier Jahren gelernt hatte. Auch finanziell würde das schwer zu schaffen sein, wenn überhaupt. Seine Mutter verdiente einfach zu wenig und die kleine Kriegerwitwenrente, die sie inzwischen bekam, reichte gerade für die allernötigsten Lebensmittel. Er würde sich neben der Schule eine Arbeit suchen. Doch was konnte er schon? Von Landwirtschaft verstand er etwas, aber das war zu schlecht bezahlt, die Bauern hatten nicht soviel übrig, dass sie noch gute Löhne zahlen konnten. Ach wenn sie doch nur in der Stadt lebten, dann könnte er vor der Schule Zeitungen austragen und wenn er ein Fahrrad hätte würden sie auch das Busgeld sparen. So überlegte er hin und her, doch es wollte ihm keine Lösung einfallen. Anna bemerkte, dass ihn etwas sehr beschäftigte, doch ihn bedrängen wollte sie auf keinen Fall. Er würde von allein zu ihr kommen und ihr seine Sorgen anvertrauen, da war sie sicher. Auch sie machte sich Gedanken und hatte auch schon mit Herrn Friedrich gesprochen, der ja in der Kreisverwaltung viele Leute kannte. Er hatte ihr versprochen, bei seinem nächsten Besuch in der Kreisstadt, in dem Gymnasium vorstellig zu werden und sich die Aufnahmebedingungen geben zu lassen.

Doch inzwischen ergab es sich, dass die Industrie- und Handelskammer des Kreises eine einjährige Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin anbot. Vorraussetzung waren ausreichend gute Fremdsprachenvorkenntnisse. Anna erschien es als ein Wink des Himmels, als sie das Angebot in der Tageszeitung las. Sie fuhr schon am nächsten Tag hin, um zu erfahren, ob sie eine Chance habe, diese Ausbildung zu machen. Aufgeregt saß sie im Vorzimmer des für die Schulungen zuständigen Sachbearbeiters. Ihre Hände waren feucht und in Gedanken übersetzte sie jedes unsinnige Wort, dass ihr gerade einfiel. Und ihr fielen nur unsinnige Worte ein. Na, das konnte ja heiter werden, wenn es ihr nicht bald gelang ruhiger zu werden und Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Nachdem ein Besucher das Büro verlassen hatte, konnte sie jetzt hineingehen. Als sie dem Herren, der mit wichtigem Gesicht hinter seinem Schreibtisch thronte, ihren Ausbildungsstand und auch die Arbeitserfahrung von ihrer zweijährigen Tätigkeit als Übersetzerin dargelegt hatte, schien er hocherfreut und fand sogar, dass in dem Fall diese Ausbildung ein Kinderspiel für sie sein würde, da sie ihre vorhandenen Kenntnisse praktisch nur auffrischen müsse und dazu die neuesten Büro- und Schreibtechniken erlernen. Anna fiel ein Stein vom Herzen, also meldete sie sich zum Schulungsbeginn Anfang Aprilan. Bedingung war nur, dass sie sich verpflichtete, nach Abschluss der Ausbildung einen mindestens fünfjährigen Arbeitsvertrag mit einem Handels- oder Industrie-Unternehmen im Land Hessen abzuschließen. Im nächsten Jahr würden im Rahmen des Hessenplanes im Rhein-Main-Gebiet neue Arbeitsplätze geschaffen, bevorzugt für Heimatvertriebene. Sie müsste also bereit sein, dann eventuell dorthin zu ziehen. Aber das kam doch ihren Plänen für Bertholds Zukunft entgegen. Anna versicherte, dass sie jederzeit dazu bereit sei. Mit einem festen Händedruck verabschiedete sie sich von dem wichtigen Herren und verließ beschwingt und glücklich sein Büro.

Da sie noch zwei Stunden Zeit hatte, bis ihr Bus zurück nach Niederbach fuhr, suchte sie einer plötzlichen Eingebung folgend, das von katholischen Nonnen geführte Gymnasium der Stadt auf. Sie schilderte der Mutter Oberin die Situation, in der sich ihr Sohn und sie befanden und sprach von seinem brennenden Wunsch, Arzt zu werden. Und dass er jetzt irgendwie sein Abitur machen müsse. Aber nicht wisse wie und an welcher Schule, ob sie, die Mutter Oberin ihr nicht helfen könne. „Gott hat meinen Sohn in Polen beschützt und ihn bei guten Katholiken aufwachsen lassen. Er hat uns hier wieder zusammengeführt und ich glaube einfach, dass es sein Wille ist, dass mein Sohn einmal Arzt wird.

U
nd ich bitte sie, mir zu helfen, dass er die Möglichkeit erhält, ein gutes Abitur zu machen.“ Die Mutter Oberin musste lächeln, als Anna den Hinweis auf die guten Katholiken in Polen brachte, aber es imponierte ihr, wie engagiert sich diese schwer geprüfte Mutter für das Fortkommen ihres Sohnes einsetzte. „Bringen sie mir ihren Sohn, ich möchte ihn sehen und mit ihm sprechen, vorher kann ich nichts sagen, das werden sie verstehen, vereinbaren sie bitte mit Schwester Felicitas, meiner Sekretärin einen Gesprächstermin. Damit verabschiedete sie Anna. Anna ging wie auf Wolken, überwältigt von dem Erfolg dieses Tages. Im Vorzimmer vereinbarte sie mit Schwester Felicitas einen Gesprächstermin für den Nachmittag des nächsten Tages und verließ das Büro. Auf dem Schulgelände stand auch eine Kapelle, die sich wie schutzsuchend an die Rückseite eines der langgestreckten Klostergebäude anlehnte. Dort ging Anna hinein, kniete nieder und dankte Gott in einem langen Gebet, für seine Güte und seine helfende Hand, die sie zu spüren glaubte. Berthold hatte ihr mit seiner Überzeugung auch ihren Glauben wiedergegeben, an dem sie doch in den letzten acht Jahren so oft gezweifelt hatte. Nach dem Gebet fühlte sie sich noch wohler und ging frohgemut zur Haltestelle ihres Busses, der sie wieder nach Niederbach bringen würde. So war sie bestimmt wieder zu Hause, wenn Berthold aus der Schule kam. Sie freute sich schon auf seine Augen, wenn sie ihm berichten konnte, was sie heute alles erfahren und arrangiert hatte.

Berthold wurde von der Klosterschule angenommen und holte mit eisernem Fleiß alles was ihm fehlte auf. Bei den Sprachen hatte er in seiner Mutter die beste Hilfe. Die Beiden fuhren morgens zusammen mit dem Bus in die Kreisstadt und Nachmittags zusammen wieder zurück. Die Arbeit bei dem Doktor musste Anna aufgeben und das wenige Geld, welches sie in den letzten Jahren hatte sparen können schmolz langsam dahin. Aber sie lebten sehr bescheiden und halfen in der wenigen Freizeit die sie hatten, auf dem Hof von Wilhelm und Elise. Dafür bekamen sie Mehl, Kartoffeln, Zucker, Rübenkraut und wenn geschlachtet wurde auch ein paar Würste und Speck. In den Schulferien arbeitete Anna wieder beim Doktor, damit die neue Kraft auch einmal Ferien machen konnte und Berthold ließ sich für die Ferienzeit auf dem Gut als Pferdepfleger einstellen. So verdienten beide etwas dazu und kamen damit über die Runden. Nachmittags lernten sie beide und fielen jeden Abend todmüde ins Bett. Elise fehlte die Freundin, die jetzt nie mehr Zeit für sie hatte. Aber sie verstand, dass die Beiden wie besessen arbeiteten und lernten. Anna war in guten Verhältnissen groß geworden und sie wollte jetzt, wo Berthold bei ihr war, nicht mehr arm und abhängig sein. Sie wollte für ihn und sich eine gute Zukunft. Die Tatsache, dass sie ihren Berthold wieder hatte, setzte ungeheure Kräfte in ihr frei.

Das Jahr verging im Flug, Frühjahr, Sommer, Herbst und wieder Winter. Dies Weihnachtsfest war das Schönste ihres Lebens. Auch diesmal lud Anna die ganze Familie Trebeis zum Weihnachtskaffee ein, es wurden wieder Geschenke ausgetauscht, zusammen gesungen und das kleine Bäumchen bewundert. Aber als dann alle den viel zu kleinen Raum verließen, war Anna nicht allein, sondern konnte sich mit Berthold die Geschichten des letzten Weihnachtsfestes, wie sie es erlebt hatte und wie er es erlebt hatte, erzählen. Sie hatten auch ein Päckchen aus Polen bekommen, von Marek und Lydia. Sonja und Pavel hatten inzwischen geheiratet und bald würden sie ein Kind haben. Karol war verlobt und auch Eva hatte einen festen Freund. Es ging allen gut und sie hofften, dass es auch Berthold und seiner Mutter gut ginge. Das schönste Geschenk in dem Päckchen, war eine Fotografie von Marek und Lydia Matzke mit ihren Kindern: Karol, Sonja und Eva, wie sie vor dem Wohnhaus des Hofes stehen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.12.2006