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Anna lächelte und dachte: „Mein Sohn, mein wunderbarer Sohn, er will nicht zulassen, dass ich seinen schweren Koffer trage.“ Während Berthold dachte: „Ich bin zu Hause, ich bin wirklich zu Hause, wie schön und gemütlich sie alles gemacht hat, meine wunderbare geliebte Mama.“ Sie betraten Bertholds Zimmer, er stellte seinen Koffer ab, sah sich um und dann in das erwartungsvolle Gesicht seiner Mutter: „Gefällt es dir?“ Da nahm er seine Mama einfach in die Arme, er war einen halben Kopf größer als sie, drückte sie ganz fest und sagte: „Es ist wunderschön Mama, aber am schönsten ist, dass ich wieder bei dir bin, ich habe dich so vermisst.“ Dabei konnte er die Tränen nicht mehr unterdrücken und auch Anna weinte in seinem Arm. So standen sie engumschlungen im Zimmer, wie sie acht Jahre zuvor am Bahndamm gelegen hatten. Sie hatten sich wiedergefunden und beide dachten gleichzeitig: „Nichts in der Welt wird uns wieder trennen können.“ Aus ihrer seligen Stimmung wurden sie herausgerissen, als der starke Geruch verbrannter Milch in ihre Nasen stieg. „Oh je, die Milch ist übergekocht,“ rief Anna unter Tränen lachend und auch Berthold musste lachen. Schnell liefen sie nach nebenan zum Herd, Anna zog den Topf vom Herd und
Berthold nahm einen Lappen zur Hand und wischte die Milch auf. Befreit lachten sie sich an, alle Verlegenheit war wie weggewischt, sie waren endlich in ihrem gemeinsamen Zuhause angekommen. Jetzt, während sie zusammen Kakao tranken und Kuchen aßen, hatte Berthold den Mut, ihr von Pavel zu erzählen. Von seiner Panik und Angst, als er ihn in Mareks Wohnzimmer erkannt hatte, und davon, dass Pavel es gewesen war der Anna gefunden hatte und dass er jetzt zu Mareks Familie gehörte, weil er Sonja heiraten würde. Und auch, dass er es Pavel zu verdanken hatte, dass er Josef und Theresa noch einmal sehen durfte. All das hatte er in Elises Beisein nicht sagen wollen, da er nicht wusste, was seine Mutter damals erlebt hatte und wie sie auf die Erwähnung dieses Mannes reagieren würde. Die Erinnerung überfiel Anna so heftig, dass ihr alles Blut aus dem Gesicht wich, sie starrte Berthold entsetzt an, wusste er etwa was damals passiert war? Doch da fragte er auch schon: „Mama, was ist damals eigentlich passiert, als du mit ihm in den Bahnhof gegangen bist? Ich habe dich doch überall gesucht, wo warst du nur und was hat er mit dir gemacht?“ „Gott sei Dank, er weiß nichts,“ dachte Anna und fing sich wieder. „Bitte Berthold, versteh, dass ich darüber nicht reden will, aber wenn wir es diesem Mann verdanken, dass wir heute wieder zusammen sind, dann will ich das als Schuldabtragung von ihm anerkennen, denn er trug die ganze Schuld an unserer Trennung. Ich wünsche ihm nichts Böses, aber ich möchte einfach nie mehr an ihn denken, ihn ausradieren aus meiner Erinnerung, so als hätte es ihn nie gegeben. Versprichst du mir, dass wir nie wieder davon reden?“ Berthold nickte ernst: „Ja, Mama, ich verspreche es dir.“

Am nächsten Tag zogen sie sich warm an und Anna zeigte Berthold die herrliche Umgebung. Sie machten einen langen Waldspaziergang und dabei sprachen sie zum ersten Mal über ihre Zukunftspläne. Gestern Nachmittag und Abend hatten sie wechselweise nur von den vergangenen Jahren gesprochen. Jetzt war es Zeit, den Blick nach vorne zu richten und an die Zukunft zu denken. Berthold sprach über seinen Wunsch, das Abitur zu machen und Medizin zu studieren. Das erfüllte Anna mit einer unbändigen Freude. Ab Montag würde Berthold hier im Ort die Volksschule besuchen, um das achte Schuljahr abzuschließen. Er würde wohl einige Prüfungen machen müssen, damit die beiden Dorfschullehrer wüssten, was ihm noch fehlte und in welchen Fächern er mit den anderen Kindern auf einer Stufe stand. „Und wenn du nicht so weit wie die anderen Kinder bist, machst du halt das letzte Jahr noch einmal,“ sagte Anna. Doch diese Aussicht fand Berthold gar nicht gut, er war sehr ehrgeizig und bereit sich ganz auf das Lernen zu konzentrieren. „Ich werde es schaffen Mama, glaube mir, ich werde es schaffen.“ Immer wenn sie hörte wie er „Mama“ zu ihr sagte, ging Annas Herz auf. Mein Gott, wie sie ihn liebte und wie stolz sie auf ihn war. Ja, er würde es schaffen, er würde alles schaffen und was sie dafür tun konnte, würde sie tun. „Ich werde auch lernen Berthold,“ sagte sie, ich werde meine Sprachkenntnisse auffrischen. Vielleicht kann ich dann eine Anstellung als Dolmetscherin in einer größeren Stadt, vielleicht sogar einer Universitätsstadt, bekommen. Dann verdiene ich mehr Geld und du kannst später nach dem Abitur studieren. Wir müssen zwar bescheiden leben, aber das ist es doch wert oder?“ „Ich wusste gar nicht, dass du Sprachen kannst, staunte Berthold, als ich klein war, hast du doch nicht gearbeitet.“ „Nein, als du klein warst, habe ich nicht gearbeitet, weil ich Papa in der Praxis helfen wollte, aber dann kam ja der schreckliche Krieg dazwischen. So haben wir von Papas Sold gelebt. Aber bevor ich Papa geheiratet habe, war ich in einem Übersetzungsbüro angestellt. Ich habe Französisch und Englisch gelernt. Ich bin ausgebildete Übersetzerin. Es ist nur schon so lange her, ich muss erst wieder hineinfinden. Doch ich bin überzeugt, ich schaffe es. Genau wie du.“ Dabei schauten sich beide an, ja sie waren sich sehr ähnlich in ihrem Ehrgeiz und es stimmte, gemeinsam würden sie alles schaffen!

Der Waldspaziergang hatte ihnen gut getan und sie noch näher zusammen gebracht. Wieder in der Wohnung angekommen, heizten sie ordentlich ein, Anna kochte und Berthold las derweil in den Heften, die Anna für ihn vollgeschrieben hatte. Er tauchte in seine frühe Kindheit ein und vieles, was er schon vergessen geglaubt hatte, tauchte in seinem Gedächtnis wieder auf. Nach dem Mittagessen legten sich beide für ein Stündchen hin, denn der gestrige Tag war sehr anstrengend gewesen und sie hatten noch bis spät in die Nacht geredet, waren heute schon früh aufgestanden, um die Gegend zu besichtigen und jetzt machte sich der fehlende Schlaf bemerkbar. Dann kochten sie wieder Kakao, diesmal ohne angebrannte Milch und verspeisten den restlichen Kuchen. „So Berthold, jetzt gehen wir gemeinsam ins Dorf und zu Frau Friedrich, die mir die gute Nachricht gebracht hat, dass du gefunden worden bist und dann kaufen wir bei Frau Hecke ein. Wahrscheinlich wirst du dabei schon eine Menge Leute kennen lernen. Begeistert war Berthold nicht von der Idee, aber schließlich musste er sich ja irgendwann den Menschen hier vorstellen, mit denen er leben wollte. Frau Friedrich freute sich riesig, als sie Anna und Berthold zur Tür hereinkommen sah. Sie rief sofort ihren Mann und Berthold begrüßte beide mit einem Diener, was Herrn Friedrich gewaltig imponierte. Das war doch einmal ein junger Mann, der noch wusste, was sich gehörte. Man setzte sich und Herr Friedrich hörte interessiert zu, als Berthold von seinem Leben in Polen erzählte. Anna musste schließlich unterbrechen und einen Besuch in den nächsten Tagen zusagen, denn schließlich wollten sie ja noch zu Heckes zum Einkaufen und abends waren sie bei Familie Trebeis eingeladen. Doch Herr Friedrich wollte wenigstens noch wissen, was Berthold sich für seine Zukunft vorstellt. „Ich will einmal Abitur machen und dann Medizin studieren, ich möchte Arzt werden wie mein Vater,“ sagt Berthold und wirkt dabei so entschlossen, dass Herr Friedrich im Stillen dachte: „Wenn unser Sohn nur halb so zielstrebig und entschlossen wäre, wie dieser Junge, dann wäre ich schon zufrieden.“ Der Sohn von Herrn Friedrich war labil und unentschlossen, am liebsten trödelte er herum und eine Leuchte in der Schule war er auch nicht. Das war ein großer Kummer in Herrn Friedrichs Leben.

Bei Frau Hecke kauften sie Lebensmittel ein und zur Feier des Tages, auch eine große Tüte Malzzuckersteine für die Familie Trebeis und eine kleine Tüte für sich. Unterwegs und auch im Laden trafen sie immer wieder Dorfbewohner, denen Anna ihren Sohn vorstellte, so war es schon dunkel, als sie endlich wieder zu Hause ankamen. Kaum hatten sie sich aus den Mänteln geschält, klopfte es schon an der Tür und die kleine Helma stand davor, um sie zum Abendessen abzuholen. Sie war schrecklich aufgeregt und verlegen, als Anna sie mit Berthold bekannt machte. Sie hatte wieder versucht, eine Strähne ihrer feinen, glatten Haare über der Stirn, mit Hilfe einer Klemme und Zuckerwasser in eine Locke zu verwandeln.

D
as Ergebnis ist nicht so wie sie es erhofft hat, die gedrehte Strähne steht ihr jetzt wie ein Horn vor der Stirn und Konrad hat sich gerade eben noch darüber lustig gemacht. Deshalb hält sie sich die Hand vor die Stirn, damit der fremde Junge sie nicht auslacht. Anna, die Helmas Unsicherheit bemerkt und die Ursache sieht, bittet Berthold, doch die Sachen aus dem Einkaufskorb auszuräumen. Und während er beschäftigt ist, geht sie mit Helma zu dem Spiegel, der an der Wand hängt, macht sich die Finger etwas nass und formt Helmas Strähne zu einer Welle, die sie mit der Klemme seitlich an der Schläfe feststeckt. Helma ist begeistert und strahlt Anna dankbar an. Und mit der Sicherheit einer Frau, die sich für die Schönste der Welt hält, geht dieses neunjährige Mädchen auf Berthold zu, nimmt seine Hand und zieht ihn zur Tür: „Komm Berthold, alle warten schon auf dich und es gibt was ganz Gutes zum Essen.“ (wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.12.2006