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Die Schwester half Berthold, den schweren Koffer aus dem Gepäcknetz zu heben, er schnallte seinen Rucksack um und plötzlich fiel ihm ein, dass er gerne irgend etwas, vielleicht ein paar Blumen, für seine Mutter dabei hätte. Aber daran hatte er in der Aufregung des Abschieds von seiner Ersatzfamilie nicht gedacht. Und jetzt hatte er keine Gelegenheit mehr, etwas zu besorgen. Es sei denn, seine Mutter war nicht gleich am Zug, dann könnte er vielleicht im Bahnhof Blumen bekommen. Die Bremsen des Zuges quietschten, das Bahnhofsgebäude erschien und der Zug rollte langsam aus. Die Schwester öffnete die Zugtür und stieg als erste aus, Berthold schob seinen Koffer an die Türkante, stieg ebenfalls aus und hob den Koffer herunter. Nach ihm drängten andere Reisende aus dem Zug, sodass er schnell vom Eingang weggehen musste. Erst jetzt konnte er sich umsehen und auch die Schwester reckte ihren Hals in alle Richtungen, um zu sehen ob Bertholds Mutter eventuell schon auf dem Bahnsteig warte.

Anna stand aufgeregt neben Elise am Bahnsteig, als der Zug einlief und schließlich zum Stillstand kam. Ihre Blicke rasten hin und her, als die Türen sich öffneten und die Reisenden ausstiegen. Eigentlich konnte sie gar nichts sehen, denn vor ihren Augen bildete sich ein Schleier aus aufsteigenden Tränen, die sie nicht zurückhalten konnte. Dieser Moment, den sie über acht Jahre herbeigesehnt hatte, wühlte sie dermaßen auf, dass sie am ganzen Körper zitterte. „Ich glaube dort hinten ist er,“ schrie ihr Elise über den Bahnhofslärm zu und zeigte in Richtung des hinteren Zugteiles. Anna wandte ihren Blick dorthin und sah einen großen blonden Jungen, der mit einem Koffer in der rechten Hand und einem Rucksack auf dem Rücken, neben einer Rot-Kreuz-Schwester auf sie zu kam. Sie wollte auf ihn zulaufen, aber sie konnte nicht. Dieses Bild, wie ihr geliebter Sohn, dessen Gesicht sie aus Tausenden heraus erkannt hätte, auch wenn es jetzt schon so erwachsen wirkte, auf sie zukam, nahm sie in einer glücklichen Starre in sich auf. Jeden seiner Schritte, seinen schlaksigen Gang, die blonden, kurz geschnittenen Haare und als er näher kam, die strahlend blauen Augen, in denen sie jetzt schon so etwas wie ein Erkennen zu sehen glaubte, alles sog sie in sich auf. Dann kam wieder Leben in ihren Körper, sie riss sich das Tuch vom Kopf und ging die letzten Schritte auf ihn zu. Als sie das Tuch abgenommen hatte, war ein Strahlen über Bertholds Gesicht gegangen, er stellte den Koffer ab, breitete die Arme genauso aus wie sie es jetzt tat, war mit zwei Schritten bei ihr und konnte endlich wieder „Mama,“ sagen. Sie fielen sich in die Arme und Berthold stammelte immer wieder nur das eine Wort: „Mama, Mama.“ Und Anna flüsterte unter Freudentränen: „Berthold, Berthold, mein Junge, endlich, endlich habe ich dich wieder.“ Elise und die Schwester standen gerührt neben den Beiden und auch Elise konnte Tränen der Rührung und des Mitgefühls mit ihrer besten Freundin nicht zurückhalten. Als die Schwester dies sah, lächelte sie und nahm Elise kurzerhand in den Arm, worauf Elise direkt in Schluchzen ausbrach und gar nicht wieder aufhören konnte, bis Anna sie unter Tränen lachend aus dem Arm der Schwester nahm, um ihr ihren Sohn vorzustellen.

Die abschließenden Formalitäten im Büro der Vermisstenstelle des Roten Kreuzes, waren schnell erledigt, dann verabschiedeten sie sich von der netten, älteren Schwester, die Berthold begleitet hatte und suchten erst einmal die Gaststätte des Bahnhofes auf. Die Aufregung hatte sie alle durstig gemacht. Anna konnte sich an ihrem Sohn nicht satt sehen, sie wandte kaum die Augen von ihm, wie groß er geworden war und wie gut er aussah! Ein Stoßgebet des Dankes nach dem anderen schickte sie in Gedanken zu Gott. Auch Elise war begeistert von diesem netten Jungen und als sich der Gedanke, so groß wäre jetzt auch unser Heinrich, einschleichen wollte, verdrängte sie ihn schnell, denn sie wollte sich mit ihrer Freundin freuen und keine trüben Gedanken aufkommen lassen. In der Gaststätte bestellten sie sich eine große Flasche Wasser mit drei Gläsern und für jeden eine Tasse Bouillon, dazu aßen sie die mitgebrachten Brote.

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ann gab Anna Berthold die Tüte mit den Zuckersteinen und die Tafel Schokolade, er teilte alles in drei Teile und sie verputzten gemeinsam in die leckeren Süßigkeiten, sozusagen als Nachtisch. Anna freute sich, dass Berthold deutsch sprach, wenn auch mit polnischem Akzent und manchmal etwas stockend und radebrechend, aber sie konnten sofort miteinander sprechen. Sie hatte Angst gehabt, dass er sie vielleicht gar nicht mehr verstehen könne, aber diese Angst war unbegründet gewesen, auch wenn sie nicht sprachen, die alte, enge Verbindung war sofort bei der ersten Umarmung wieder da gewesen. Sie hatten sich nicht verloren! Glück macht hungrig, sie aßen alles auf, was sie dabei hatten, lachten und schwatzten, bis ihr Zug ausgerufen wurde.

Während der Zugfahrt erzählte Berthold von seinem Leben bei Marek und Lydia. Anna und Elise hörten ihm gespannt zu und beiden wurde klar, welch großes Glück Berthold gehabt hatte, dass Marek ihn an jenem Abend am Bahndamm gefunden hatte. Anna nahm sich vor, einen Dankesbrief an die Beiden zu schreiben und Berthold darin zu unterstützen, den Kontakt zu ihnen aufrecht zu erhalten. Froh war sie auch, zu hören, dass Josef lebte und es ihm, Theresa und Hexie gut ging. Wenn sie auch, durch das Leben bei ihrem Sohn, Rücksichten auf seine Ansichten und seine Stellung nehmen mussten und ihr Leben nicht, wie gewohnt, nach eigenem Gutdünken führen konnten. Was nach Bertholds Ansicht den beiden alten Leuten schwer zu schaffen machte. Doch wurde das gewiss durch die Freude, mit ihren Kindern und Enkeln zusammen zu leben, aufgewogen, meinte Anna. Berthold war sich da nicht so sicher. Auf ihn hatten sie einen sehr bedrückten Eindruck gemacht. Und es war ihnen sichtlich schwer gefallen, ihm zu sagen, dass er ihnen nicht schreiben solle, da ihre Schwiegertochter die Post abhole und es nur Ärger gäbe, wenn ihr Sohn erführe, dass sie im Briefkontakt mit ihm ständen. Auch sie könnten ihm nicht schreiben, da sie sicher waren, dass der Postbeamte es bestimmt ihrem Sohn sagen würde, wenn seine Eltern Post nach Deutschland aufgäben. So konnte Berthold seiner Mutter nur die herzlichsten Segenswünsche von Josef und Theresa übermitteln und ihr Theresas Kette geben. Anna nahm die Kette gerührt in die Hände und ließ sie sich dann von Berthold umlegen. Ein wenig Traurigkeit machte sich im Zugabteil breit. Alle drei schwiegen und dachten darüber nach, wie dieser Krieg, der doch schon so lange aus war, immer noch das Leben vieler Menschen erschwerte und Menschen die sich zugetan waren trennte. Elise brach endlich das Schweigen und die bedrückte Stimmung und erzählte Berthold von Niederbach, seiner neuen Heimat. Da kehrten auch Annas Gedanken wieder in die glückliche Gegenwart zurück und sie fiel Elise immer häufiger ins Wort, um eine Begebenheit oder Beschreibung aus ihrer Sicht zu schildern. Jetzt hörte Berthold zu und musste oft nachfragen, weil beide Frauen zu schnell und aufgeregt losredeten und sich manchmal nicht einigen konnten, wer denn nun recht hatte. Da es überwiegend um lustige Erlebnisse und Begebenheiten ging, die mit Annas Leben in Niederbach zu tun hatten, denn von den traurigen, schweren Stunden wollten beide nicht reden, wurde die Stimmung der drei wieder fröhlicher.

Als sie am Zielbahnhof angekommen waren, stand Wilhelm mit der Kutsche schon vor dem Eingang. Es hatte den ganzen Tag geschneit, so dass sie jetzt auf einer geschlossenen Schneedecke auf der Straße zurückfuhren. Wilhelm war der große, freundliche Junge sofort sympathisch gewesen und er freute sich mit Anna. Auf dem Hof angekommen, half er Berthold, den schweren Koffer in die Wohnung im ersten Stock zu tragen, dann verabschiedeten sich Elise und er. Morgen sollten Anna und Berthold zum Abendessen rüber kommen, damit Berthold die ganze Familie Trebeis kennen lernt. Anna und Berthold waren froh, dass Wilhelm von sich aus gesagt hatte, dass sie doch jetzt wohl erst einmal Zeit für sich bräuchten, denn danach sehnten sie sich auch. Anna hatte heimlich befürchtet, dass sie jetzt gleich von der ganzen Familie empfangen worden wären und Oma Trebeis womöglich alle zum Kaffee eingeladen hätte. Und Anna hätte nicht gewagt, abzulehnen, weil sie niemanden in dieser Familie kränken wollte. Aber sie hatte das Feingefühl dieser Menschen unterschätzt.

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rinkst du Kaffee oder Kakao Berthold?“ Es gab ihr einen Stich, als ihr bewusst wurde, dass sie nichts von seinen Gewohnheiten und Vorlieben wusste. Er musste ihr soviel erzählen, sie wollte alles wissen, jede Kleinigkeit, wollte die vergangenen acht Jahre nacherleben. „Kakao wäre mir lieber,“ sagte Berthold und betrachtete gerührt den schön gedeckten Tisch. Die Stimmung zwischen ihnen war plötzlich irgendwie angespannt und verlegen. Anna stellte Milch für den Kakao auf den Herd.
„So, bis die Milch kocht und der Kakao fertig ist, kannst du ja schon einmal dein Zimmer besichtigen und deinen Koffer auspacken, komm mit ich zeig dir alles.“ Damit nahm sie Bertholds Koffer, den er ihr aber sofort wieder aus der Hand nahm, um ihn selbst zu tragen.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.12.2006