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Streitgespräch

Patriotismus oder doch nur Party?

Hat die Fußballweltmeisterschaft nun das Selbstbild der Deutschen verändert oder nicht? Sind wir unverkrampfter geworden, wenn es ums Thema Patriotismus geht, oder war der Sommer doch nur eine Party im schwarz-rot-goldenen Dress? Unsere Autoren Matthias Meyer zur Heyde und Dietmar Kemper sind verschiedener Meinung.


Matthias Meyer zur Heyde: Wenn wir hier diskutieren wollen, ob die im Zeichen von Schwarz-rot-gold feiernden Deutschen nun Partygäste oder Patrioten waren, richten wir ohne Begriffsdefinition nicht viel aus. Interessanterweise ist es beim Stichwort »Patriotismus« ohne Belang, ob man sich volksnah auf Wikipedia stützt oder auf das wissenschaftliche »Lexikon der Politik«.
Im Internet wird Patriotismus als tiefes Gefühl der Verbundenheit mit dem eigenen Vaterland - entweder wegen ethnischer oder wegen politischer Zugehörigkeit - beschrieben. Im Handbuch heißt es, Patriotismus sei die Identifikation mit dem eigenen Staat oder Volk. Und wenn wir noch einmal Wikipedia Glauben schenken wollen, dient die Party dem geselligen Beisammensein.
Ich habe freudestrahlende Gesichter und herzliche Umarmungen gesehen, ich habe Klinsi- und Poldi-Rufe gehört, und auf den Fanmeilen floss das Bier in Strömen. Wann im Sommer 2006 hast du eine Solidaritätsbekundung mit Staat oder Volk wahrgenommen?

Dietmar Kemper: Meine Nachbarn haben den Mast mit der Deutschland-Fahne erst Ende Oktober abgebaut. Im Frühjahr soll erneut Schwarz-rot-gold gehisst werden. Die WM war mehr als der Wettstreit der besten Fußballer auf dem Globus, mehr als eine Party. Sie wirkt nach, sie hat den Umgang mit nationalen Symbolen selbstverständlich gemacht.

Matthias Meyer zur Heyde: Wer Schwarz-rot-gold trägt, muss noch lange nicht stolz auf Deutschland sein. Der Fachmann spricht hier von »Nation Branding«. Nimm das Schweizer Kreuz. Das hat man zum Erkennungszeichen für Qualität und Exklusivität gemacht, vom Taschenmesser bis zum Bankenviertel. Deutschlands Werbestrategen hingegen scheiterten schon vor der WM, als sie versuchten - Hightech statt Reformstau -, unsere Farben zum Symbol für ein »Land der Ideen« zu erheben. Persil hat's richtig gemacht: drei Frotteetücher in schwarz-rot-gold gestapelt und eine Flasche Color-Gel davorgestellt. Für zum Duschen nachem Schlusspfiff. Mehr war nicht beabsichtigt - und mehr wollte auch keiner.

Dietmar Kemper: Das sehe ich anders. Schwarz-rot-gold überall war mehr als ein Potemkinsches Dorf. Eine Emnid-Umfrage während der WM ergab, dass 71 Prozent der Deutschen stolz auf ihr Land sind. Jeder fünfte glaubt, dass der Patriotismus zum Dauergefühl wird. Du kannst doch wohl nicht bezweifeln, dass Fußball dabei geholfen hat, ein unverkrampftes Verhältnis zu Deutschland zu entwickeln.

Matthias Meyer zur Heyde: Das will ich gerne glauben, aber was sagt Volkes journalistische Stimme, was sagt die »Bild«-Zeitung dazu? Sie sprach von »schwarz-rot-geil«. Das ist Popkultur, nicht Leitkultur.

Dietmar Kemper: Die Diskussion wird mir zu intellektuell. Vor allem junge Leute malten sich ihre Gesichter in den Nationalfarben an. Sie gehen nicht selbstquälerisch mit Begriffen wie Nation und Patriotismus um wie ihre Großeltern. Eine Konsequenz der WM lautet: Flagge zeigen ist völlig okay.
Und noch etwas: Zu meiner Studienzeit galt es als schick, bei Länderspielen dem Gegner die Daumen zu drücken. Das ist heute anders.
Die Einstellung zum Land hat sich sogar bei den so genannten Intellektuellen gewandelt.

Matthias Meyer zur Heyde: Ja, ja, der deutsche Intellektuelle. Der kommt unweigerlich in Diskussionsstimmung, sobald man ihm die deutsche Trikolore hinhält. Und genauso regelmäßig amüsiert sich das Ausland darüber. Würde aus Spaß jemals Patriotismus, würde die Welt nicht lachen und mitfeiern, sondern aufheulen. »Die Fans nehmen an dieser Debatte der Intellektuellen gar nicht teil, denn ihre Flaggen drücken nur Partystimmung aus - ein Gefühl, dass den Einwanderern aus Südeuropa abgeschaut wurde«, sagt der polnische Journalist Piotr Jendroszczyk. Und die Polen sind, wie du weißt, die ersten, die schreien, wenn sich der Deutsche stolz in die Brust wirft.

Dietmar Kemper: Dazu hatten sie diesmal wahrlich keinen Grund. Fans aus aller Welt haben die Gastfreundschaft der Deutschen gelobt. Politiker anderer Länder spürten eine nationale Aufbruchstimmung. Die Welt habe keine Angst mehr vor übertriebenem Patriotismus in Deutschland, lobte uns UN-Generalsekretär Kofi Annan.

Matthias Meyer zur Heyde: Vielen Dank, aber die WM war nicht die Zeit der Patrioten. Während des Turniers hätte die Alternative nur Hartz IV und 19 Prozent Mehrwertsteuer lauten können. Da sind vier Wochen Dauerparty eindeutig die bessere Wahl. Oder willst du etwa Merkel und Münte feiern?
Ich finde, der Historiker Paul Nolte hat die Stimmung im Lande sehr hübsch in Worte gekleidet. Er sprach von einer Botschaft der Menschen auf der Straße an die Intellektuellen: Ihr diskutiert in euren komplizierten Hirnwindungen über Patriotismus und neue Leitkultur - und wir stecken uns einfach mal ein Fähnchen ans Auto. Genau so war's doch, oder?

Dietmar Kemper: Man kann auch Party machen, ohne sich das Gesicht anzumalen und Fahnen ins Fenster zu hängen. Die WM legte etwas frei, was über Jahrzehnte verschüttet war: die offene Identifikation mit dem eigenen Land. Unter dem Eindruck des 3:2-Siegs gegen Ungarn, damals 1954 in Bern, schrieb der Berliner Schriftsteller Friedrich Christian Delius die Erzählung »Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde«. 52 Jahre später sind wir nicht Weltmeister geworden, aber der Fußball hat wieder ein gehöriges Stück zur Einheit der Deutschen beigetragen.

Artikel vom 30.12.2006